Durch die geballte Anstrengung, die Pluralität der konkurrierenden musikalischen Lesarten und der theatralen Zugänge, das kontrastreiche, aber letztlich doch harmonische Zusammenwirken von traditionsbewussten und experimentellen Spielweisen konnte sich die touristisch überstrapazierte Landeshauptstadt neuerlich als Zentrum europäischer Kultur positionieren. „Mozart 22“ wird die naturgemäß flüchtigen Augenblicke der Aufführungen im Jubiläumssommer überdauern. Weniger wohl auf den Bühnen, sondern vor allem medial: Die Deutsche Grammophon und Decca präsentieren das Ganze nur wenige Wochen nach der letzten Aufführung der von Doris Dörrie im Salzburger Landestheater dreist, aber effektiv in einen modernen Baumarkt verfrachteten „La finta giardiniera“ auf 19 DVDs. Chronologisch beginnt der große Parcours mit den erstaunlichen Talentproben des 11-Jährigen in Salzburg: mit dem lateinischen Intermedium „Apollo et Hyacinthus“ und dem dreiteiligen „Fastenspectaculum“ „Die Schuldigkeit des ersten Gebots“ (John Dews Inszenierung entriss diese frühen Arbeiten des durch Reisen nach Wien, Paris, London und Italien bereits sehr erfahrenen und stilsicheren Knaben dem Vergessen). Das mit dem „Schauspieldirektor“ zusammenmontierte und den Marionetten anvertraute Rokoko-Singspiel „Bastien und Bastienne“, die in eine „Irrfahrt“ eingegangene „La finta semplice“ und der aus dem für Mozart so wichtigen Mannheim beigesteuerte „Ascanio in Alba“ lassen ebenso wie der heftige Zugriff von Marc Minkowski und Günter Krämer auf „Mitridate“ den großen Anlauf nachvollziehen, den Mozart als Jugendlicher mit einem Dutzend Versuche der unterschiedlichsten Provenienz unternahm – bis ihm mit „Idomeneo“ 1781 in München der erste nachhaltig bedeutsame Beitrag zur Gattung der Opera seria und ein „Wurf“ gelang. Roger Norrington steuerte durch die stürmischen Klangwellen, deren Hinter- und Abgründe Karl-Ernst und Ursel Herrmann mit ihrer ruhigen Symbolsprache auf- und abklärten. Die leistete auch bei ihrer edlen, librettotreuen und zunehmend faden Illustrierung von „Così fan tutte“ einsichtige Dienste: Die Irritationen der Herzen durch die tieferen Triebe gesellen sich zu den dirigentischen Schönschreibübungen Manfred Honecks hinzu sowie ein großes Ei, eine unschuldig weiße Feder, ein Labyrinth unter fahlem Vollmond, ein wachsender und schrumpfender Wald und schließlich das offene Meer. Mit drei „Irrfahrten“ setzten der Dirigent Michael Hofstetter und der Choreograf Joachim Schlömer Fragmente wie „Lo sposo deluso“ und „L’oca del Cairo“, aber auch versprengte Mozart-Lieder und Arien in Zusammenhang und Bewegung. Hofstetter, der auch stark bei den Ludwigsburger Festspielen engagiert ist, knetet mit seinen Händen, als müsse er die Musik selbst hervorbringen. In seinem Wunsch, beständig „intensiv“ sein zu wollen, tendieren die Allegro-Sätze zum allzu Hurtigen, die Adagio-Passagen zu einer Gespreiztheit, die die Sängerinnen in Atemnot geraten lassen kann. Er mischt historistische Spielpraktiken ahistorisch ein, paart zum Beispiel Laute und Hammerflügel; er will die rasche Folge von Effekten – und kommt damit einem Teil der Klientel entgegen. Was im Salzburg der 50er-Jahre die in Schlossgemächern bei Kerzenlicht klingelnden Cembalistinnen für den Seelenhaushalt der Prestigebewussten waren, das sind heute die smarten, dauerdynamischen Dirigenten seines Schlags: passend zur Reklame für Fitness-Yoghurt, frischwärts und fettarm. Mit Jubel, Trubel, Schwimmbassin und etwas krampfhafter Heiterkeit bei den Liebesintrigen sowie erhaben schlichter Lichtregie für „Rex tremendae“ oder die ergreifende Lacrimosa-Skizze des Requiems lotete die Produktion die Nahtstellen aus von dem, was von Mozart vertraut ist, und dem Unbekannten und Irritierenden. Trotz ziemlich einschlömernder Episoden verrieten diese „Kreationen“ eine dramaturgische und inszenatorische Anstrengung, wie sie heute von Festspielen der Spitzenklasse erwartet wird. Ähnlich die Kombination der in einen politisch-militärisch heiklen Orient führenden „Zaide“ (einem Singspiel-Torso von 1779/80 aus dem Vorfeld der „Entführung“) mit einer neuen Komposition von Chaya Czernowin (geb. 1957). Mit der aktuellen Ergänzung bildete der israelisch-palästinensische Konflikt die Folie für eine grenzüberschreitend verschränkte Liebesgeschichte. Eine Story dieser Art enthält schon die hintergründig
verzwickte Handlung der „Entführung aus dem Serail“,
die Stefan Herheim (in der mit klassizistischer Strenge und moderner
Medienturbulenz operierenden Ausstattung von Gottfried Pilz) um
die Figur des Bassa Selim kürzte – dem aus Vernunftgründen
gütigen Potentaten hat Mozart die Singstimme vorenthalten.
Herheim promoviert das Singspiel zur nachdenklich stimmenden Versuchsanordnung
für Liebes-, Paarungs- und Heiratswünsche, Begehren und
Verkehren, Sündenfall und Kinderfragen, die sich „Così
fan tutte“ annähert und so in tiefere Schichten von Mozart-Interpretation
vordringt.
Dessen „Don Giovanni“ hatte Martin Kušej 2002 zum Auftakt der großen Suite neuer Salzburger Mozartproduktionen zur Cena mit dem Komtur in den ewigen Schnee beordert: Dort ließ der Regisseur den „sehr leichtfertigen jungen Edelmann“, ausgelaugt von kulturgeschichtlichen Altlasten und Kokain-Exzessen, vom allzu lang gedemütigten Diener Leporello schnöde abstechen – und so den Mythos entzaubern. Von Kušejs weißem Salon für „Don Giovanni“ war es nicht weit zur Staatskanzlei-Architektur für „La clemenza di Tito“, die sich – halb Baustelle geblieben – fulminant in die Aura der Felsenreitschule fügte und sie kontrapunktierte. Dieser „Titus“, düsteres Pendant zur „Zauberflöte“, erschien nach dem Willen des Salzburger Schauspieldirektors als „Reise in die Nacht zukünftiger Katastrophen, Terroranschläge und Kapitol-Brände“ – im grellbuntesten Kontrast dazu dann Mozarts finale „Teutsche Oper“, moderiert von Riccardo Muti, in den markanten Felsen- und Kinderkunstlandschaften des niederländischen Künstlers Karel Appel (Pierre Audi überarbeitete seine gut zehn Jahre alte Amsterdamer „Zauberflöten“-Inszenierung). Mit der aufgebotenen Vielfalt stellte die „Werkstatt Salzburg“ mannigfache Traditionsbindungen und die Befähigung zu Renaissancen ebenso unter Beweis wie den partiellen Willen zum Experiment. Allerdings fehlte dem Projekt ein strategischer Kopf und eine dramaturgisch strukturierende Hand; sie hätten dafür zu sorgen, dass ästhetische und politische Zusammenhänge wie Kontraste systematischer herausgeschält werden. Harnoncourts borniert konservative Vorgabe, es gäbe „bei Mozart keinen Hinweis auf das geistige Klima, das der französischen Revolution vorausging“, wurde zur heimlichen dramaturgischen Leitlinie für fast das gesamte Festspiel-Programm. Die (überwiegend freiwillig akzeptierte) Gleichschaltung mag für die Verkäuflichkeit der DVD-Edition nützlich sein, dem europäischen Horizont der Festspiele war sie abträglich. Frieder Reininghaus |
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