Die Basis bricht uns weg
„taktlos“-Sendung zur Chormusik in München
Am
4. April 2003 wurde – live aus dem Chorsaal des Bayerischen
Rundfunks – das Rundfunk-Musikmagazin „taktlos“ zum
Thema „Chormusik“ ausgestrahlt (Bayern2Radio). Unter
der Moderation von Theo Geißler diskutierten Gudrun Schröfel,
Leiterin des Mädchenchors Hannover, Stefanie Gross, Mitglied
des Bayerischen Rundfunkchores und des Chorvorstands, Michael Gläser,
künstlerischer Leiter des Rundfunk-Chors, Kurt Suttner, Leiter
des via-nova-chores München und Chorpädagoge sowie Stefan
Meuschel, VdO-Geschäftsführer über die derzeitige
Situation, über Vergangenheit und Zukunft des Chorwesens.
Wir drucken das Gespräch auszugsweise ab.
Geißler: Stefan Meuschel, kann man in Zeiten von Etat-Schmelzungen,
von Theaterschließungen jungen Menschen überhaupt noch
mit gutem Gewissen empfehlen, den Beruf des Chorsängers zu
ergreifen?
Meuschel: Das kann man unbedingt, denn es
ist ja ein wunderschöner
Beruf. Es gibt in der Bundesrepublik rund 360 Rundfunkchormitglieder
und rund 3.100 Bühnenchormitglieder, also insgesamt nicht
einmal 4.000. Merkwürdigerweise ist es dennoch ein Beruf,
in dem die Zahl der leeren Stellen größer ist als das
Angebot. Noch ist es so, dass wir immer mehr freie Stellen haben
als besetzt werden können trotz des rasanten Stellenabbaus
insbesondere im Bühnenbereich.
Geißler: Adorno hat nach
dem Krieg davon gesprochen, dass schon der Chorklang als solcher
den „fatalen Anschein einer
so genannten heilen geborgenen Welt inmitten der ganz anderen“ erwecke.
Er soll uns Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
das Singen ein für allemal verboten haben. Bei 1968 stehen
geblieben – und nichts dazu gelernt. Sind das berechtigte
Vorwürfe gegen die Laienszene?
Schröfel: Die Laienszene
hat sich seit dieser Zeit qualitativ sehr entwickelt. Es ist wichtig,
dass auch im Laienbereich professionell
gearbeitet wird. Ich denke, dass wir von klein auf versuchen müssen,
auch im Bereich der Kinder- und Jugendchorausbildung sehr professionell
zu führen. Ich finde, Adorno muss man heutzutage nicht mehr
so ernst nehmen.
Geißler: Es war ja aber so, dass eine ganze
Generation dem Singen verloren gegangen ist. Das hatte doch einen
Grund.
Suttner: Ich denke, dass der wichtigste Grund, warum bei
uns nicht mehr gesungen wurde, sicher das Dritte Reich ist, weil
doch sehr
viele junge Leute gemerkt haben, dass da die politische Ideologisierung
mit dem Singen konform ging. In der Nachkriegszeit kam dann eine
völlig neue Welle von ganz anderer Musik; da haben sich die
Jugendlichen dann hingewandt.
Meuschel: Sicher ist es richtig,
und ich würde sogar die DDR
da mit einbeziehen: Totalitäre Systeme können zur falschen
Ideologisierung anhaltende Chormusik leicht missbrauchen. Unmittelbar
nach dem Krieg gab es eine gewisse Skepsis, sich diesem „Verführungsmedium“ Chorgesang
auszusetzen. Da ließ man es lieber ganz bleiben.
Geißler:
Es war ja dann auch so, dass an den Schulen nicht mehr gesungen
wurde. Es gab eine Lehrergeneration, die Musiktheorie
in den Vordergrund gestellt hat.
Suttner: Die gibt es aber heute
leider auch.
Gross: Ich bin auf eine Waldorfschule gegangen, wo im musischen
Bereich sehr viel passiert. Ich habe nicht nur im Schulchor, sondern
auch im Musikunterricht gesungen. Als Gesangslehrerin habe ich
allerdings erlebt, dass Schüler zu mir kamen, mit Anfang zwanzig,
die gesagt haben: „Ich habe einmal in der Schule vorsingen
müssen und eine Fünf gekriegt. Seither habe ich mich
nie wieder getraut. Dabei war es immer mein Wunsch zu singen.“ Ich
finde es sehr schade, dass das Singen häufig in Zusammenhang
mit Benotung gebracht wird. Da werden sehr viele Ängste aufgebaut.
Geißler: Nun kam in den 60er-Jahren
auch die Rock- und Popmusik auf, die sehr stark die individuelle
Stimme oder die kleine gemeinsam
singende Gruppe in den Vordergrund gestellt hat mit einem musikalischen
Material, das ganz anders war als vorher, das sich im Chor vielleicht
gar nicht so gut umsetzen ließ. War das hinderlich?
Suttner: Natürlich, insofern als eine ganz andere Erwartungshaltung
unter den Jugendlichen entstand. Aber wir sollten uns hüten,
Mauern zwischen den Musikbereichen aufzubauen. Es gibt in jeder
Gattung gute und schlechte Musik.
Schröfel: Es gibt auch aus einer bestimmten Entwicklung
heraus hervorragende Pop-Arrangements, Jazz-Chöre, die eine neue
Sparte bilden und die sehr viele Jugendliche begeistern. Das gehört
heute einfach dazu. Wenn natürlich die Techniken nicht gut
geführt werden, dann kann dadurch stimmlich Schaden angerichtet
werden, wenn das zu früh in eine bestimmte Richtung der Stimmausbildung
läuft.
Geißler: Herr Gläser, ist der Habitus des Rock- und
Popsingens nicht der natürliche Feind des Belcanto? Muss man
da nicht Angst haben, dass die Stimme Schaden nimmt, gerade, wenn
man im professionellen Bereiche so genannte ernste Musik singen
will?
Gläser: Ja und nein. Wenn man die Stimme gut führt, dann
kann man auch mit der Technik in dem Bereich viel machen. Aber
ich glaube nicht, dass einer meiner Kolleginnen und Kollegen im
Popbereich tätig ist. Ich hoffe es zumindest nicht. Da wäre
ein Strauss-Sound schwieriger zu erreichen.
Geißler: Die Ausbildung für professionelle Chorsänger
ist das A und O. Sind nicht sehr viele junge Menschen, die heute
an Hochschulen studieren, eigentlich mit dem Ziel dort angetreten,
die große Solistenkarriere zu machen?
Gläser: Alle, die bei uns im Chor singen, haben eine
Solistenausbildung hinter sich. Sie haben sich entschieden, in
einem Ensemble zu singen.
Das sollte man nicht abwerten, eher im Gegenteil.
Suttner: Wir haben jetzt zwei Musikstücke vom Rundfunkchor
gehört: hoch sensibel, hoch künstlerisch. Aber es gibt
sehr viele junge Menschen, die das nicht schätzen, die, wenn
ihr Chorleiter damit beginnen würde, ihm davon laufen. Das
ist eine Pyramide. Und Chöre wie der Rundfunkchor sind die
Spitze. Aber die Spitze muss eine Verwurzelung in der Basis haben.
Und die Basis muss vorhanden sein. Mir scheint, dass uns die Basis
wegstirbt, nicht die Spitze.
Meuschel: Ich gebe Herrn Suttner Recht. Das ist auch Folge
des schwindenden musischen Unterrichts, vom Kindergarten angefangen, über
die allgemein bildenden Schulen bis hinauf in die weiterführenden
Bildungseinrichtungen. Das wirkt sich auch auf die Akzeptanz der
Chormusik, überhaupt der Musik aus.
Suttner: Für Kinder ist jede Musik neue Musik. Da
ist der Schlager neu, und da ist Mozart neu. Es kommt sehr auf
die Pädagogen
an. Da geht es auch um die Schulmusikerausbildung. Bei der Aufnahmeprüfung
spielt jemand hervorragend Klavier, das wird stark gewertet, und
wenn er dann nur mittelmäßig singen kann, dann wird
er trotzdem genommen. Aber im Studium spielt er dann weiter Klavier
und soll später Kinder zum Singen bringen. Das geht nicht.
Geißler:
In den fünfziger Jahren wurde sehr viel alte
Literatur wieder aufgewärmt bei den Gesangsvereinen. Wie war
das mit neuen Kompositionen. Gab oder gibt es auch neue Chormusik?
Schröfel: Wir haben soeben eine Auftragskomposition
an Herrn Rautavara vergeben, eine von vielen. Die Literatur für unseren
Mädchenchor ist ja nicht so zahlreich gesät. Deshalb
ist man angewiesen auf zeitgenössische Komponisten, die mit
dem Chor arbeiten. Und es ist auch eine wichtige Sache, die zum
Hören anregt.
Suttner: Das Problem ist wohl, dass viele
Chorleiter in ihrer Ausbildung zwar Dirigieren lernen. Wenn sie
dann aber eine
Partitur mit grafischer
Notation oder mit Aleatorik sehen, legen sie sie wieder weg, weil
sie das nicht gelernt haben und sich nicht zutrauen. Ich denke,
es ist schwieriger, das Ave verum von Mozart so zu singen, dass
wirklich die Dreiklänge stimmen. Unser Ohr ist sehr sensibel,
wenn es um die ganz traditionelle Harmonik geht. Wenn aber diese
neuen Dinge wie Sprechen, Geräusch – in künstlerisch
wertvoller Weise natürlich – mit integriert sind, dann
sind diese Dinge unter Umständen leichter zu verwirklichen
als die traditionelle Chormusik.
Ich glaube, die Verbindung zwischen Komponisten und Chören
ist bei uns in Deutschland zu schwach. In den nordischen Ländern
ist diese Verbindung sehr viel stärker. Das sollten wir fördern,
damit die Komponisten wissen: Was kann der Chor?
Aber diese Verbindung ist bei uns schwer herzustellen. Geißler: Warum?
Suttner: Weil sich in den 60er-Jahren die
Vokalmusik in ein so spezielles Gebiet abgekapselt hat und diesen
Zusammenhang
verloren
hat.
Gross: Wir haben vor kurzem eine Auftragskomposition an
Wolfgang Rihm vergeben. Wir sehen da auch eine wichtige Aufgabe
gerade der
Rundfunkchöre, zeitgenössische Musik zu präsentieren.
Geißler: Herr Meuschel, könnte
es sein, dass an anderen Hochschulen da doch noch einiges im Argen
liegt?
Meuschel: Ich bezweifle grundsätzlich, das die Gesangsausbildung
in diesen universitätsähnlichen Betrieb hinein gehört,
der sich an den Hochschulen für Musik und Theater herausgebildet
hat. Wenn ich mir zum Beispiel das Münchner Curriculum angucke
und sehe, dass da knapp ein Drittel praktischer Instrumental- und
Gesangsunterricht in den ersten drei Semestern für auszubildende
Sänger betrieben wird und der Rest wissenschaftlichen Fächern
gewidmet ist, wobei beim Opernchor noch die Schauspielausbildung
dazu kommt, dann habe ich meine Zweifel. Das Kernproblem beim Gesangsunterricht:
Es ist ja doch ein Lernberuf und kein wissenschaftlicher Beruf.
Es müsste bei der Ausbildung viel mehr Wert darauf gelegt
werden, dass die Berufsvorbereitung im Zusammenhang mit der Praxis
erfolgt und dass sie zielorientiert auf die Dinge hin erfolgt,
die dann vom Sänger abverlangt werden. Die Zahlen, die wir
haben, sind erschreckend: Es gehen jedes Jahr 300 deutsche Sänger
mit Diplom von der Schule ab. Wir haben einen Bedarf von 160, und
30 davon landen im deutschen professionellen Gesangsbetrieb: Zeichen
dafür, dass an den Hochschulen einiges im Argen liegt.
Info:
Taktlos - das musikmagazin des bayerischen rundfunks und der neuen
musikzeitung - mit dem Real-Audio-Mitschnitt dieses Gesprächs
|