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Im Zeichen der Kunst
Einige Gedanken zum deutschen Stadttheater · Von Gerhard
Rohde
Es war in den frühen 70er-Jahren: Der Frankfurter Theaterkritiker
Peter Iden reiste zu einer Schauspielpremiere nach Braunschweig.
Die Stadt markierte damals noch die östliche Grenze der alten
Bundesrepublik. Sie hatte sich nach dem Krieg einen viel zu großen
Bahnhof gebaut im Glauben an die baldige Wiedervereinigung. Das
gab immer wieder einmal Anlass zu mildem Spott.
An einem frühen Samstag Nachmittag im späten Herbst kam
der Kritiker Peter Iden auf diesem Bahnhof an und beschloss, sich
die Stadt ein wenig wandernd anzuschauen. Viel zu erleben gab es
nicht. Kaum Leute auf den Straßen. Tot, fast wie im anderen
Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang. Nur vor einem kleinen
Kino in einer der Innenstadtstraßen lungerte eine kleinere
Gruppe junger Leute vor dem Entrée. Der Kritiker – Zeit
genug hatte er – beschloss sich den Film anzusehen. Irgend
so ein B-Picture amerikanischer Provenienz. Doch erhielt das Lichtspiel
eine unerwartete Nähe und Gegenwärtigkeit. Ein junges
Paar wandert auf der Reise durch ein kleines Städtchen an
der französischen Atlantikküste. Die Häuser scheinen
bewohnt, Türen und Fenster stehen offen, nur ist niemand zu
erblicken – bis plötzlich eine größere Schar
Jugendlicher auftaucht. Wo aber sind die Erwachsenen, die Eltern
und Großeltern der jungen Leute? Das Geheimnis lüftet
sich nur allmählich und ist für unseren Fall denn auch
nicht mehr so wichtig: Die Jungen haben alle Erwachsenen umgebracht.
Die unheimliche Geschichte aus der fiktiven Stadt, den ewigen
Generationenkonflikt auf grausliche Art variierend, und das fast
ebenso verlassen erscheinende
Braunschweig: Wer würde in der parallelen Konstellation nicht
geheimnisvolle Koinzidenzen erkennen? Aus dem leisen Albtraum erwachte
Kritiker Iden erst beim Betreten des Theaters. Plötzlich waren
viele Menschen unterschiedlichen Alters versammelt, helles Licht
brannte, Gespräche erfüllten als brummelnder Klang das
Foyer: Man war gespannt auf das Kommende. Mit dem Abend schien
auch der Ort gerettet: Es lebten also doch noch Menschen in der „Toten
Stadt“, die das Bedürfnis verspürten, sich im Theater
zu treffen, ein neues Stück kennenzulernen, mit Freunden und
Bekannten danach vielleicht noch bei einem Glas Wein über
das Gesehene zu sprechen. Die Lebendigkeit einer Gemeinde dokumentiert
sich nicht allein in Autoverkehr oder Geschäftsumsätzen,
viel mehr in den Gesprächen, die Bürger unter sich führen.
Heute nennt man das gern Kommunikation, bei der man jedoch häufig
feststellt, dass ihr mitunter das wichtigste für jedes Gespräch
fehlt, nämlich die Sprache. Wer will bestreiten, dass das
Theater eine der letzten Bastionen ist, an denen sich Sprache noch
behauptet? Wobei gleich hinzugefügt sei, dass die Erkenntnis
in gleich hohem Maße auch die Sprache der Musik umschließt
wie die des Tanzes: Sprache sowohl zur Ausbildung rationaler Fähigkeiten
wie zur Erweckung emotionaler Kräfte. Auch leichte Muse
Dem Theater fällt in dieser Erziehung des Menschen zu einem
bewussteren, sinnhaften Leben eine wichtige, ja entscheidende Rolle
zu, und wenn wir Theater sagen, dann meinen wir damit, wie oben
schon kurz erwähnt, alle Sparten, die das Theater begrifflich
umschließt: Schauspiel, Oper und Musik, Ballett, Operette – ja
auch diese, denn eine qualitätvolle Unterhaltungskultur zählt
ebenfalls zur Kultur, die heute am ehesten an den kleineren und
mittleren Bühnen gepflegt wird, während die „Großen“ sich
dem heiteren Genre meist nur zuwenden, wenn ein Großregisseur „Fledermaus“, „Lustige
Witwe“ oder „Csárdásfürstin“ für
sich entdeckt – es sind vorwiegend nur diese drei Werke,
die deren Interesse erregen, weil sich aus ihnen Leichtsinn, Verlogenheit
und Zusammenbruch einer Gesellschaftsschicht im Ersten Weltkrieg
am simpelsten herausdestillieren lassen. Einer fängt immer
mit der Dekonstruktion an und dann klappern die anderen nach: Ein öde
gewordener phantasieloser Reigen. Das kleine Stadttheater wirkt
dagegen ehrlicher, weil es die mitunter schlichten, gleichwohl
liebenswürdigen Produkte der Leichten Muse nicht wichtigtuerisch überfordert. Provinztheater
Das Theater in unseren kleineren und mittleren Städten begegnet
oft Unverständnis: Wer möchte eigentlich noch „Don
Giovanni“, „Lohengrin“, „Faust“, „Hamlet“ und
vieles andere in bescheidenerem Rahmen „live“ sehen,
wenn das Fernsehen einem die internationalen Großereignisse
sogar ganz billig in die Wohnstube liefert? Denn nicht jeder kann
nach Salzburg, Bayreuth, Berlin und Paris jetten und sich die teuren
Karten leisten. Man hört diese Argumente gegen das Stadttheater
immer wieder und schon seit langem, sogar eine Elisabeth Schwarzkopf
bezweifelte einmal eifernd den künstlerischen Sinn einer „Rosenkavalier“-Aufführung
an einer „Provinzbühne“.
Noch eine andere „Geschichte“ aus der Wirklichkeit
könnte skeptischen Nützlichkeitsdenkern helfen, das Thema „Wozu
uns das Deutsche Stadttheater dient“ aus einer erweiterten
Perspektive zu betrachten. Der österreichische Schriftsteller
Christoph Ransmayr, als Festredner für die Eröffnung
der Salzburger Festspiele 1997 bestellt, überraschte das auf
allgemeine Lobpreisungen und den Tonfall des Rühmens eingestellte
Festpublikum mit dem Vorlesen einer scheinbar einfachen Erzählung
aus eigener Feder, in der er dem hochgestimmten Auditorium Bericht
aus dem fernen Irland gab. Dort hatte Ransmayr – er lebt
in Irland – eine Naturbühne entdeckt, ein offenes, leicht
muldenförmiges Plateau, unmittelbar an den Meeresklippen gelegen.
Früher trafen sich an dieser Stätte die Bewohner des
nahen Dorfes und der Umgebung zu Gesang, Tanz, Gespräch: ein
Ort der Gemeinschaft, des lebendigen Zusammenseins, wo man nicht
nur über schöne Dinge, sondern auch über Katastrophen
und Scheußlichkeiten etwas erfuhr. Ransmayrs Rede, die zum
Verdruss der elitären Festspielversammlung so gar nicht den üblichen
Erwartungen entsprach, war in Wahrheit die einzig richtige Festspielrede:
weil diese über die poetische Reflexion hinaus auf einen höchst
aktuellen Zustand verwies. Nicht nur die Salzburger Festspiele,
alle Stätten der Kultur, der Musik, des Theaters, des Wortes
und des Bildes dienen nicht allein einer Vorführung, wo man
sich etwas anschaut, anhört, zur Kenntnis nimmt, sie sind
mehr noch Orte der Versammlung, in der ein Mensch über das
Ereignis hinaus zu sich selbst zu finden vermag, indem er die Notwendigkeit
und Verantwortung seiner sozialen Existenz begreift. Die Kunst,
die Dichter, Komponisten und alle ihre Helfer unterstützen
den einzelnen bei diesem Durchschreiten des Weges zu einer höheren
Einsicht. Ransmayrs Text, der schon im Titel mit der „Dritten
Luft“ auf diese existenznotwendige „Beatmung“ des
menschlichen Lebens hinweist, ist nicht nur poetisch, sondern vor
allem auch hochpolitisch. Er fordert Nachdenken und Handeln über
und für „unsere Kultur“ und ihren Anspruch ein.
Man sollte die schmale Erzählung jedem Kulturpolitiker, überhaupt
jedem Politiker zwecks Nachdenkens auf den Schreibtisch legen.
Beide Geschichten, die aus Braunschweig und die aus Irland, könnten
als Mahnung und
Aufforderung zum Nachdenken dienen, wenn sich wieder einmal in
den kleineren und größeren Städten unseres Landes
in den politischen Gremien fatale Überlegungen ausbreiten,
wie man sich am besten der kulturellen Verpflichtungen entledigt.
Doch soll die Polemik wider die Kulturpolitik ausnahmsweise einmal
unterbleiben. In Köln konstituierten sich gerade Arbeitskreise
aus Bürgertum, Institutsleitern und Kulturschaffenden, um
einer desolaten städtischen Kulturpolitik mit einem ignoranten
Oberbürgermeister an der Spitze und einer hilflosen Kulturdezernentin
mit konstruktiven Vorschlägen zur Hilfe zu eilen. Das wäre
vielleicht der richtige Weg: Das Gespräch aller Beteiligten über
alles, was Kultur für eine Stadtgemeinschaft unabdingbar macht.
Wer nicht nur zu Festspielen fährt, sondern sich nicht scheut,
die so genannte Provinz, das kleine oder größere Stadttheater
(auch Staatstheater) zur Kenntnis zu nehmen, wird immer wieder überrascht
von deren Vitalität, Einsatzbereitschaft, Wagemut und hohem
künstlerischen Anspruch. Positive Beispiele
Nur einige Beispiele aus jüngster Zeit: Ausgerechnet im zweiten
Haus am Platz, dem Gärtnerplatztheater in München, erlebte
man mit der grandiosen Uraufführung von Awet Terterjans „Das
Beben“ eines der zwingendsten Werke neueren Opernschaffens.
In Münster setzte sich die Oper mit bemerkenswertem Erfolg
für Azio Corghis „Senja“ ein, in Mainz erfuhr
Peter Ruzickas „Celan“ eine eindringliche Darstellung,
die das engagierte Werk dunkler, stilisierter, fast zwingender
zeigte als die Dresdner Uraufführung, zumal die orchestrale
und vokale Leistung des Mainzer Hauses über jede Kritik erhaben
war. Wie professionell und perfekt die Orchester kleinerer Musikbühnen
inzwischen zu agieren vermögen, konnte man in Darmstadt bei
der deutschen Erstaufführung von Kajia Saariahos „L`amour
de loin“ hören: Unter Stefan Blunier vernahm man vieles
klangschärfer, plastischer, auch klangschöner und farbreicher
als bei der Salzburger Festspielpremiere unter Kent Nagano. Und
in bester Erinnerung ist uns noch ein Tag im Gießener Stadttheater,
wo Menottis „Globolinks“ in Anwesenheit des Komponisten
eine brillante, optisch süffige und pointiert gespielte Aufführung
vor vielen Kindern und Jugendlichen erfuhr. Anschließend
waren alle noch manche Stunden mit dem Komponisten im Hause zusammen:
Das Stadttheater als ein Ort, wo man etwas lernt, sieht, hört
und wo man gern beisammen ist. Dass die vielen kleinen Musikbühnen
und auch die anderen Sprech- und Tanztheater, auch notwendige Stätten
für die Ausbildung des künstlerischen Nachwuchses sind,
wo sie erste Erfahrungen und Sicherheit gewinnen können, ist
zu bekannt, als dass es hier noch besonders erwähnt zu werden
bräuchte. Von vielen Stadttheatern gehen darüber hinaus
heute auch unendlich viele Impulse in die jeweiligen Städte
aus, zu den Schulen, zu theatralischen Arbeitsgemeinschaften und
anderen Initiativen. Die Dramaturgien der Häuser leisten hierbei
Bewundernswertes, weit über die normale Arbeitsverpflichtung
hinaus. Auch das sollten Politiker einmal bedenken, bevor sie sich
die eigenen Diäten erhöhen. Doch wir wollten ja diesmal
nicht polemisieren. Sorgen wir uns lieber gemeinsam um die kleinen
Theater, vor allem im Osten der Republik, die oft einen verzweifelten
Kampf gegen die Geldnot führen, wo sie doch alles versuchen,
Christoph Ransmayrs Mahnungen in gesellschaftliche Realität
umzusetzen. Die Aufgaben und die Ziele sind für alle Theater
diesselben. Gerhard Rode
Info
Sammlung
von Aufsätzen zur Musikkultur in den Städten
in der neuen
musikzeitung
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