Häufig ein zähes Ringen
Deutsche Oper: Gespräche mit dem scheidenden Hellwart Matthiesen...
Die Berliner Opernszene präsentiert sich in diesen Tagen
skandalös wie nie. Dennoch können auch hier Personalwechsel
harmonisch ablaufen. An der Deutschen Oper wurde in diesem Frühjahr
die gute Seele des Chores, Hellwart Matthiesen, nach langjähriger
Laufbahn verabschiedet. Von 1968 bis 1972 bereits als Assistent
des legendären Walter Hagen-Groll an der Deutschen Oper tätig,
war Matthiesen hier – nach Zwischenspielen als erster Mann
in Frankfurt und Braunschweig – seit 1981 der stellvertretende
Direktor des Chores. Die letzten 27 Jahre stand er für eine
hoch angesehene Chortradition, während über ihm die Chordirektoren
wechselten. Erst zu Beginn der Spielzeit kam William Spaulding
vom Nationaltheater Mannheim. Markiert der gebürtige Amerikaner,
der unter anderem in Barcelona und an der Volksoper in Wien wirkte,
nun das Ende der Ära, für welche Hellwart Matthiesen
stand? „Oper & Tanz“ hat mit beiden gesprochen.
Eine Gegenüberstellung voller Verschiedenheiten und überraschender
Gemeinsamkeiten. Die Gespräche führte Paul Bräuer.
Oper & Tanz: Herr Matthiesen, haben Sie nun, da Sie verabschiedet
wurden, viel Zeit übrig?
Hellwart Matthiesen: Es gibt viel, was liegen geblieben ist. Ich
will noch vieles lesen und sehen. Darum hoffe ich, so gesund zu
bleiben, dass ich noch ein bisschen durch die Weltgeschichte gondeln
kann. Außerhalb der Oper arbeite ich auch noch ein wenig
weiter.
O&T: Und werden Sie dem Chor
der Deutschen Oper noch verbunden bleiben?
Matthiesen: In jedem Fall. Ich nehme noch immer
ein paar Aufgaben außerhalb meines Engagements wahr. Es interessiert mich schließlich
auch, wie sich der Chor weiterentwickelt.
O&T: Ihr Abgang fällt in eine Zeit des personellen Wandels
am Haus…
Matthiesen: …ist aber ganz persönlich. Ich bin sozusagen
schon seit mehreren Jahren überfällig und nur Jahr für
Jahr geblieben, weil sonst ein zu großer Wechsel gewesen
wäre. Normalerweise sind stellvertretende Chorleiter jünger
und eher auf dem Sprung, irgendwo erster zu werden. Irgendwann
musste einmal ein Punkt gesetzt werden.
O&T: Gibt es Vorzüge der Stellvertreterposition?
Matthiesen: Nein. Es kommt darauf an, was man
aus der Position macht. Wenn man nur darauf schaut, wann der erste
Chorleiter mal
krank ist, ist es genauso unsinnig, wie wenn einen der Chorablauf
wenig interessiert und man lieber möglichst viele andere Chöre
nebenbei macht.
O&T: Fällt Ihnen spontan ein schönstes Erlebnis ein?
Matthiesen: Die konzertanten Opern, die wir gemacht
haben. Weil man da musikalisch wesentlich mehr Prozente durchsetzen
konnte,
als wenn noch ein Bühnengeschehen dazukommt.
O&T: Macht es einem die Regie
oft zu schwer?
Matthiesen: Es ist häufig ein zähes Ringen, die musikalischen
Notwendigkeiten durchzusetzen. Es strahlt etwa aus, wenn Bewegungen
asynchron zum eigenen Gesang laufen.
O&T: Nehmen die Schwierigkeiten
eher zu oder ab?
Matthiesen: In den letzten Jahren ist es gleichbleibend.
Ich will nicht sagen, dass die Regie unmusikalischer wird; vielleicht
nimmt
sie weniger Rücksicht. Andererseits wollen wir als Chor ja
auch szenisch und darstellerisch präsent sein. Die Sänger
sind spielfreudig. Es muss nur musikalisch machbar bleiben. Das
gilt auch für den Stil. Fühlen sich die Chorsänger
zum Beispiel als italienisches Bauernvolk, weil sie auch so in
Szene gesetzt werden, oder nehmen sie ihre Rolle vor lauter Abstraktion
gar nicht mehr zur Kenntnis.
O&T: An anderen Orten Berlins
wird den Musikern durch Tanzeinlagen oder Singen im U-Bahn-Schacht
noch weit mehr abverlangt. Ist bei
solchen Experimenten die Grenze des Machbaren überschritten?
Matthiesen: Das ist die Gefahr dabei. Wenn das
musikalische Gerüst
steht, kann man wiederum noch viel dazupacken. Ich habe häufig
erst mal gedacht, dass alles durcheinandergeht und musste mich
dann selbst korrigieren. Man darf nicht lernunfähig werden,
und muss manches einfach erst mal versuchen.
O&T: Gilt das auch für flexiblere Beschäftigungsmodelle?
Matthiesen: Eine kleine Kernmannschaft und dann
wahlweise zukaufen? Das ist auf die Dauer nichts. Der gemeinsame
Geist entsteht aus
der gemeinsamen Chorprobe. Auch wir hier sind zur Zeit noch unter
der Zahl, die wir im Grunde sein müssten. Die Größe
des Chores spielt auch für die zu erreichende Qualität
eine Rolle. Man kann kleinere Zahlen nicht durch lauteres Singen
ausgleichen. Im Gegenteil: Je leiser die Leute singen sollen, desto
mehr Leute brauchen sie.
O&T: Welchen Einfluss hat man
als Chorleiter auf den Klang des Chores über notengetreue Umsetzung hinaus?
Matthiesen: Treue zum Werk setzt ja immer voraus,
dass man eine Vorstellung davon hat. Und die ist individuell. Man
kann sehr gerade
und präzise und ganz durchsichtig singen wie etwa in Dresden,
aus der Bachtradition heraus, oder man will mehr dynamische Kraft
und Rundung und geballten Ausdruck haben wie in Mailand. In den
Noten sind beide Extreme als Möglichkeit vorhanden.
O&T: Was ziehen Sie vor?
Matthiesen: Das zweite natürlich, so wie Walter Hagen-Groll
es gemacht hat. Er war sehr am italienischen Chorklang orientiert.
Hagen-Groll kam ja aus der Schule von Wilhelm Pitz, dem Chorleiter
der Bayreuther Festspiele in den 50er- und 60er-Jahren, und auf
der anderen Seite hat ihn Karajan mit seinen italienischen Aufnahmen
und dem dunkel gefärbten Klangbild geprägt.
O&T: Der Chor der Deutschen
Oper als die italienischen Deutschen. Das ist dann aber ja auch
Ihr persönliches Werk.
Matthiesen: Weil das auch mein eigener Idealklang
ist. Bei Opernmusik natürlich nur. Walter Hagen-Groll war mein entscheidender
Lehrer und ich habe mich bemüht, das Erbe zu bewahren. Wie
weit das durchzusetzen war, ist eine ganz andere Frage. Wir haben
ja in den letzten Jahren einen häufigen Wechsel gehabt. Hagen-Groll
hatte eine lange und ruhige Zeit und konnte so seinen spezifischen
Klang entwickeln.
O&T: Ein Wunsch für den Nachfolger?
Matthiesen: Der Weg, den Herr Spaulding eingeschlagen hat, ist
sehr gut. Man muss bei einem Neuanfang zurückfahren, wieder
rein sprachlich arbeiten, aber auch das Italienische mit der Präzision
und dem etwas gespannten Ton neu aufbauen. Das erfordert wahnsinnig
viel Detailarbeit. Für mich ist es wichtig, dass es einfach
kontinuierlich weitergeht. Nicht um bremsend zu sagen: „Das
ist Tradition, das muss so sein.“ Es muss Änderungen
geben, aber es gibt auch Erfahrungswerte. Das habe ich ja schon
mit vielen Chordirektoren gehabt, und nun ist es eben zu Ende gegangen.
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