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Neue Spielräume für die Chöre
Eindrücke aus Essen, Gera, Stuttgart und Zürich · Von
Frieder Reininghaus
William Congreves Libretto zu „Semele“ verhandelte
im frühen 18. Jahrhundert die Geschichte einer Königstochter
im alten Theben, die bei der vom Vater arrangierten Hochzeit das
Ja-Wort verweigert. Denn sie ist anderweitig heillos verliebt (und
schwanger): Zeus, der mächtigste der Götter, ist ihr
Liebhaber. Allerdings kein sehr aufmerksamer. Ihm entgeht, dass
sie ihm ebenbürtig sein und Unsterblichkeit erlangen möchte.
Georg Friedrich Händels Opernglück war wechselhaft.
Nachdem sich zu „Deidamia“, seinem 44. Bühnenwerk,
partout nicht ausreichend Publikum einstellen wollte, liquidierte
der Meister den Opern-Zweig seines Unternehmens und sattelte um
auf die Produktion von durch prächtige und gewaltige Chöre
beflügelte Oratorien in der Landessprache. 1744 griff er auf
Congreves Text zurück, brachte in Covent Garden mit „Semele“ ein
Werk „in the manner of an oratorio“ heraus. Es geriet
in Vergessenheit. Dem modernen Musiktheater hingegen kamen einige
Oratorien Händels besser zupass als viele seiner Opern – und
gerade „Semele“ scheint besonders theatertauglich.
Marco A. Marelli tauchte die asymmetrische „Beziehungskiste“ fürs
Ludwigsburger Schlosstheater in gleißend schöne Bilder.
Fred Berndt zeigte Semele in Halle als Träumerin des 20. Jahrhunderts,
die durch den im Mediengeschäft herrschenden Mr. Jupiter als
Schauspielerin groß herauskommen will. Am brillantesten erschien
die Teilmodernisierung durch Robert Carsen beim Festival in Aix
1996: die Handlung wurde ins Haus Windsor verlagert und um Elizabeth
II. als böse Gottkönigin Juno gruppiert. Da blieb das
Lachen im Halse stecken.
Und nun Dietrich Hilsdorf am Aalto-Theater Essen: Er zeigt „Semele“ in
einem aristokratischen Londoner Salon der Händelzeit. Im Hintergrund
ist, frei nach Pieter Brueghel, der Turmbau zu Babel als überdimensionales
Wandbild zu sehen. Schon dadurch wird deutlich, dass es mit diesem
Werk um den hypertrophen Wunsch nach Unsterblichkeit und um eine
krasse Form von Verblendung geht: „Myself I shall adore“,
singt Semele, während sie in den Spiegel sieht. Sie wird nicht
unmittelbar von den Göttern bestraft, sondern schafft sich
selbst aus der Welt (die beleidigte Schwester und Ehefrau Jupiters
initiiert allerdings die Intrige, die zu ihrem Verbrennungstod
führt). Die Sopranistin Olga Pasichnyk durchmaß mit
brillanten Koloraturen und einer angemessenen Kraftentfaltung die
Höhenflüge der Gefühle und der Partie – nach
einem Flammeninferno sank sie zum Häuflein Asche zusammen.
Uwe Stickert, ein Tenor von Format, kam als Jupiter wie ein feister
britischer Landlord des frühen 18. Jahrhunderts daher – fein,
aber scharf ließ ihn Hilsdorf das Männlichkeitsgebaren
vorführen (er beschwert sich tatsächlich bei Juno über
die horrenden Erwartungen der Geliebten!). Jos van Veldhoven steuerte
die Dynamik, die Wucht und Kontemplation der Chöre ebenso
perfekt wie die ausladenden Nachtmusiken. Hilsdorf inszenierte
nicht, wie angekündigt, „eine lieblose Komödie“,
sondern durchaus (freilich mit leichter Hand!) die Tragödie
der Semele: mit sehr genau differenzierten Haupt- und Nebensträngen
der Handlung. Mit kritischen, ironischen und manchmal ausgesprochen
witzigen Fußnoten. Die Ausstattung schuf eine wichtige Voraussetzung
dafür, dass die Choristen durchweg als Individuen in einem
höchst differenziert dargestellten gesellschaftlichen Geflecht
wahrgenommen wurden.
Ein analoges, in der dramaturgischen Funktion und in den herbeizitierten
Bildelementen freilich gänzlich anders geartetes Ausstattungs-Angebot
hatte Dieter Richter kurz zuvor bereits für eine „Lohengrin“-Inszenierung
in Gera unterbreitet: wiederum mit einem mehrfach modifizierten
Einheitsbühnenbild und mit der klaren Option, die zahlreichen
Choristen als unterschiedliche Charaktere zu profilieren. Den großen
und für Vereinheitlichung sorgenden Rahmen bildete eine Maschinenhalle
des 19. Jahrhunderts. Der Schwanenritter John H. Murray kam in
Dr. Kohls „blühende Landschaften“, mischte sich
in den Streit um das Nutzungskonzept für die schöne alte
Industriearchitektur zwischen der japanischen „Heuschrecke“ Tel-ra-mund
(Teruhiko Komori) und der im Verfahren schwer belasteten Erbin
Elsa (Franziska Rauch). Als im Detail so wandlungsfähig wie
die Bühneninstallation erwiesen sich Herr Rufer (Serge Novique)
und Dr. Heinrich König (Bernhard Hänsch). Letzterer erinnerte
an die Mobilisierung des Kanzlers Schröders zu Auslandseinsätzen
im Osten, warb dann mit Wagners immer noch heiklen Worten in Gestalt
von Angela Merkel. Die größere Hälfte des Publikums
feierte die akkurat inszenierte Übertragung und Thomas Wickleins
Dirigat samt der gelungenen Anstrengung und sichtbar lustvollen
Mitwirkung der Kollektive. Da blüht Gera auf!
Weitere gelungene Beispiele dafür, wie Ausstattung und Regie
in der Lage sind, gerade den Chorist/-inn/-en neue, heiterkeitsträchtige
und zu differenzierter Sicht auf alte Stücke führenden
Wirkungsmöglichkeiten zu eröffnen, waren Igor Bauersimas
Stuttgarter Rossini-Inszenierung „Le Comte Ory“ und
die Züricher „Clari“ mit Cecilia Bartoli. Das
Regieteam Moshe Leiser/Patrice Caurier präsentierte die recht
triviale Geschichte der frühen Halévy-Oper im Internet-Zeitalter
und angereichert mit Elementen eines „Fotoromans“ von
Christian Fenouillat. Die Mitglieder des Chors avancierten in hohem
Maß zu Protagonisten der turbulenten Buffo-Episoden.
Frieder Reininghaus
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