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Kulturpolitik

Ein Opernverlag par excellence

Die Casa Ricordi wird 200 Jahre alt · Von Andreas Kolb

Das Musikland Italien trauert. 200 Jahre nach seiner Gründung durch Giovanni Ricordi geht der Verlag Ricordi an die Universal Music Group, während das Ricordi-Archiv bei Bertelsmann bleibt. „Aufstieg und Fall eines Verlagshauses in Zeiten des kulturellen Niedergangs in Italien“, so beschreibt Giordano Montecchi die Situation in der Zeitschrift „Giornale della Musica“.

Wahre Schätze

 
Uraufführung „Das Märchen“ von Emmanuel Nunes in Lissabon. Foto: Alfredo Rocha
 

Uraufführung „Das Märchen“ von Emmanuel Nunes in Lissabon. Foto: Alfredo Rocha

 

Was ist geschehen? Werfen wir anlässlich des 200-Jahre-Jubiläums einen Blick auf Geschichte und Gegenwart von Casa Ricordi. Bereits 1994 ging die Aktiengesellschaft G. Ricordi & Co in den Besitz der Bertelsmann Music Group (BMG) über. Seit 2007 gehört der Verlag der Universal Music Group, der Musiksparte des französischen Konzerns Vivendi. Ein Novum insofern, als Universal im Klassikbereich vorher verlegerisch nicht tätig war. Die Headquarters von Universal Music sind in Los Angeles, die europäische Führung sitzt in London. Universal teilt sich auf in den Bereich der Tonträger, zu nennen wären hier etwa Deutsche Grammophon oder Decca, und in einen Verlagsbereich, zu dem Ricordi nun zählt. Die neuen Inhaber von Casa Ricordi, Ricordi London, Ricordi München, Durand-Salabert-Eschig und Editio Musica Budapest verfügen nun mit dem italienischen Traditionshaus und mit Durand-Salabert-Eschig über wahre Schätze an Rechten: geschützte jüngere Werke und teilgeschützte kritische Werkausgaben.

Man benötigt für das Geschäft mit der Kunst in der Regel ein sicheres Gespür für gute Musik, ein inhaltlich diversifiziertes Verlagsprogramm; und darüber hinaus natürlich langen Atem. Die teils enormen Investitionen etwa in eine zeitgenössische Oper – die durchaus im unteren sechsstelligen Bereich liegen können – sind natürlich immer mit einem hohen geschäftlichen Risiko verbunden. Hier ist absolutes Vertrauen zum Komponisten und dessen Arbeit nötig, wie es der Verlag etwa im Fall der vor einigen Wochen uraufgeführten vierstündigen Oper „Das Märchen“ von Emmanuel Nunes aufgebracht hat, in der Überzeugung hier die Entstehung eines Jahrhundertwerks mit ermöglicht zu haben.

Erfolgreiche Zeitgenossen

Ricordi hat im schmalen Markt der Gegenwartsmusik kommerziell erfolgreiche, lebende Komponisten im Repertoire, zum Beispiel so renommierte Künstler wie Giorgio Battistelli und Mauro Lanza in Mailand, Peter Eötvös, Enno Poppe und Heiner Goebbels in München oder Liza Lim in London. Diese Namen stehen aber auch für eine Spezialität im Unternehmen Ricordi, die man „Italianitá“ nennen könnte: Progressives Musiktheater spielte seit der ersten Stunde des Verlagshauses stets eine Hauptrolle.

Zwei Jahrhunderte zurück: Es war einmal ein Geiger namens Giovanni Ricordi. Der Sohn eines Glasschneiders war im Geistesklima des napoleonischen Mailand aufgewachsen, in dem Initiative und Unternehmertum erwünscht waren. In dieser Epoche hatten Opern üblicherweise ein kurzes Leben. Man wollte Neues, nur wenige Stücke schafften es, in mehreren Theatern hintereinander aufgeführt zu werden. Eine Situation, wie wir sie heute auch wieder kennen. Diese Flüchtigkeit der Werke war der Grund dafür, dass man keine Energie und vor allem keine Kosten in den aufwändigen Druck von Partituren und Stimmen investierte.

Exklusivvertrag mit der Scala

Mit dem Aufkommen der bürgerlichen Hausmusik und der Praxis der Amateuraufführungen änderte sich diese Situation dramatisch. Giovanni Ricordi erkannte die Zeichen der Zeit: Gerade erst von Leipzig zurückgekommen, wo er das Notenstechen bei dem alteingesessenen Verlag Breitkopf & Härtel gelernt hatte, gründete er 1808 sein Druck- und Verlagshaus in Mailand. Neben der Tätigkeit auf dem pädagogischen und dem kammermusikalischen Gebiet setzte Ricordi vor allem auf die Zusammenarbeit mit den italienischen Opernhäusern. Als ehemaliger Geiger, Kopist und Souffleur an verschiedenen Häusern kannte Ricordi die Erfordernisse des Opernbetriebs genau. Die Marktrecherche hatte er gründlich betrieben: Innerhalb kurzer Zeit setzten sich seine Drucke dank ihrer guten Qualität am Markt durch, er bekam den Titel „Verleger des königlichen Musikkonservatoriums“ verliehen. 1814 gelang es ihm, mit der Scala einen Exklusivvertrag zu schließen, der ihn berechtigte, alle dort zur Aufführung kommenden Opern zu vertreiben. Es folgten ähnliche Verträge mit großen Häusern in Venedig und Neapel.

Ebenso wichtig waren die Verträge, die er mit Komponisten abschloss, um diese langfristig an die Casa Ricordi zu binden: darunter Gioacchino Rossini, Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti und 1844 erstmals Giuseppe Verdi, mit „Nabucco“ und „I Lombardi“.

Der Fokus auf das Musiktheater ist Ricordi bis heute erhalten geblieben. Das korreliert mit dem Drang der Komponisten, Oper und Musiktheater zu machen. Gleichzeitig ist Oper aber auch das ideale Mittel, um Öffentlichkeit für die Neue Musik zu schaffen.

Expansion des Verlagshauses

Zurück nach Mailand: Als Giovanni Ricordi 1853 starb, übernahm sein Sohn Tito Ricordi d. Ä. (1811–1888) die Verlagsleitung. Er erwarb 1888 auf Anraten Verdis das Verlagshaus Lucca und holte damit Werke von Meyerbeer, Halévy, Gounod, Ponchielli und Catalani zu Ricordi, einschließlich der italienischen Rechte an den Werken Wagners. 1919 beendete das Ausscheiden Tito Ricordis d. J. (1865–1933) die Ära des Familienunternehmens Ricordi.

Heute hat Ricordi Niederlassungen in Mailand, Paris, London, Budapest und München. Die Münchener Niederlassung des Verlags, die 1945 aus der Leipziger Filiale hervorging, vertritt die Kataloge der Schwesterfirmen in Deutschland, Tschechien, Polen, Schweiz und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die drei Hauptschwerpunkte sind Werkausgaben, Pädagogik und Neue Musik.

Es erscheinen die kritische Ausgabe der Werke von Giacomo Meyerbeer sowie Werk­ausgaben von Alexander Zemlinsky, Karel Reiner und Manfred Gurlitt. Geschäftsführer Reinhold Quandt initiierte erst vor kurzem in Kooperation mit der Internationalen Simon-Mayr-Gesellschaft in Ingolstadt die Herausgabe des gesamten Schaffens des bayerischen Komponisten Johann Simon Mayr, der in der Nähe von Ingolstadt geboren wurde, zu seinen Lebzeiten als Opernkomponist weit über Europa hinaus gerühmt und in Italien liebevoll „Papa Mayr“ genannt wurde.

Mayr war ein Lehrer Donizettis, nahm eine Mittlerfunktion zwischen Mozarts Opernschaffen und dem italienischen Belcanto ein und galt sogar als „Vater der italienischen Oper“. Erst jüngst brachte das Staatstheater Braunschweig die deutsche Erstaufführung von Mayrs „Fedra“ – seit 161 Jahren (damals in New York) die erste Aufführung einer Mayr-Oper – heraus. Und das ist erst der Anfang: Da Mayr nahezu 70 Opern geschrieben hat, steht den Münchnern entsprechend Arbeit ins Haus.

Vertrauen in die Komponisten

Ricordi München bindet seine etwa 25 Komponisten nicht an Exklusivverträge. Aber: „Wir verlegen jedes Werk, das uns unsere Komponisten anbieten“, sagt Michael Zwenzner, der für die Promotion zuständig ist, „die Vertrauensbasis ist das Entscheidende“. Vinko Globokar, Heiner Goebbels, Klaus Huber, Emmanuel Nunes, Younghi Pagh-Paan, Samir Odeh-Tamimi, Rolf Riehm, Bettina Skrzypczak, Nikolaus Brass oder Enno Poppe, dessen Musiktheater „Arbeit Nahrung Wohnung“ aktuell auf der Münchener Biennale seine Uraufführung erlebte. Der Verlagspromoter Michael Zwenzner ist sichtbar zufrieden, wenn er Namen aus dem aktuellen Ricordi-Katalog nennt. Aber er ist auch Realist: „Es sind stachlige Stücke im Katalog, Stücke wider den Zeitgeist. Radikalere Positionen – wie bei Ricordi stark vertreten – haben es heute schwerer, wo viel Musik komponiert wird, die sich an Publikumserwartungen und an die Routine der meisten Opernhäuser und der Orchester anpasst.“ Dass etwa „Das Schweigen der Sirenen“ von Rolf Riehm oder Klaus Hubers zentrales Meisterwerk „Schwarzerde“ seit ihren Uraufführungsproduktionen nie wieder aufgegriffen wurden, verweist auf Tendenzen, die ihn beunruhigen.

Die Furcht vieler Branchenkenner, dass die Verlage das Vertrauen in Komponisten verlieren, „die emphatisch am Kunstanspruch festhalten“, teilt Zwenzner nicht und präsentiert vier neue Komponisten bei Ricordi, die garantiert keine Eintagsfliegen sind: die Deutsche Annette Schlünz, der Tscheche Jan Jirásek, der Franzose Fabien Lévy und der Russe Sergej Newski.

Andreas Kolb

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