|
Ein Opernverlag par excellence
Die Casa Ricordi wird 200 Jahre alt · Von Andreas Kolb Das Musikland Italien trauert. 200 Jahre nach seiner Gründung
durch Giovanni Ricordi geht der Verlag Ricordi an die Universal
Music Group, während das Ricordi-Archiv bei Bertelsmann bleibt. „Aufstieg
und Fall eines Verlagshauses in Zeiten des kulturellen Niedergangs
in Italien“, so beschreibt Giordano Montecchi die Situation
in der Zeitschrift „Giornale della Musica“.
Wahre Schätze
Was ist geschehen? Werfen wir anlässlich des 200-Jahre-Jubiläums
einen Blick auf Geschichte und Gegenwart von Casa Ricordi. Bereits
1994 ging die Aktiengesellschaft G. Ricordi & Co in den Besitz
der Bertelsmann Music Group (BMG) über. Seit 2007 gehört
der Verlag der Universal Music Group, der Musiksparte des französischen
Konzerns Vivendi. Ein Novum insofern, als Universal im Klassikbereich
vorher verlegerisch nicht tätig war. Die Headquarters von
Universal Music sind in Los Angeles, die europäische Führung
sitzt in London. Universal teilt sich auf in den Bereich der Tonträger,
zu nennen wären hier etwa Deutsche Grammophon oder Decca,
und in einen Verlagsbereich, zu dem Ricordi nun zählt. Die
neuen Inhaber von Casa Ricordi, Ricordi London, Ricordi München,
Durand-Salabert-Eschig und Editio Musica Budapest verfügen
nun mit dem italienischen Traditionshaus und mit Durand-Salabert-Eschig über
wahre Schätze an Rechten: geschützte jüngere Werke
und teilgeschützte kritische Werkausgaben.
Man benötigt für das Geschäft mit der Kunst in der
Regel ein sicheres Gespür für gute Musik, ein inhaltlich
diversifiziertes Verlagsprogramm; und darüber hinaus natürlich
langen Atem. Die teils enormen Investitionen etwa in eine zeitgenössische
Oper – die durchaus im unteren sechsstelligen Bereich liegen
können – sind natürlich immer mit einem hohen geschäftlichen
Risiko verbunden. Hier ist absolutes Vertrauen zum Komponisten
und dessen Arbeit nötig, wie es der Verlag etwa im Fall der
vor einigen Wochen uraufgeführten vierstündigen Oper „Das
Märchen“ von Emmanuel Nunes aufgebracht hat, in der Überzeugung
hier die Entstehung eines Jahrhundertwerks mit ermöglicht
zu haben. Erfolgreiche Zeitgenossen Ricordi hat im schmalen Markt der Gegenwartsmusik kommerziell
erfolgreiche, lebende Komponisten im Repertoire, zum Beispiel so
renommierte
Künstler wie Giorgio Battistelli und Mauro Lanza in Mailand,
Peter Eötvös, Enno Poppe und Heiner Goebbels in München
oder Liza Lim in London. Diese Namen stehen aber auch für
eine Spezialität im Unternehmen Ricordi, die man „Italianitá“ nennen
könnte: Progressives Musiktheater spielte seit der ersten
Stunde des Verlagshauses stets eine Hauptrolle.
Zwei Jahrhunderte zurück: Es war einmal ein Geiger namens
Giovanni Ricordi. Der Sohn eines Glasschneiders war im Geistesklima
des napoleonischen Mailand aufgewachsen, in dem Initiative und
Unternehmertum erwünscht waren. In dieser Epoche hatten Opern üblicherweise
ein kurzes Leben. Man wollte Neues, nur wenige Stücke schafften
es, in mehreren Theatern hintereinander aufgeführt zu werden.
Eine Situation, wie wir sie heute auch wieder kennen. Diese Flüchtigkeit
der Werke war der Grund dafür, dass man keine Energie und
vor allem keine Kosten in den aufwändigen Druck von Partituren
und Stimmen investierte. Exklusivvertrag mit der Scala
Mit dem Aufkommen der bürgerlichen Hausmusik und der Praxis
der Amateuraufführungen änderte sich diese Situation
dramatisch. Giovanni Ricordi erkannte die Zeichen der Zeit: Gerade
erst von Leipzig zurückgekommen, wo er das Notenstechen bei
dem alteingesessenen Verlag Breitkopf & Härtel gelernt
hatte, gründete er 1808 sein Druck- und Verlagshaus in Mailand.
Neben der Tätigkeit auf dem pädagogischen und dem kammermusikalischen
Gebiet setzte Ricordi vor allem auf die Zusammenarbeit mit den
italienischen Opernhäusern. Als ehemaliger Geiger, Kopist
und Souffleur an verschiedenen Häusern kannte Ricordi die
Erfordernisse des Opernbetriebs genau. Die Marktrecherche hatte
er gründlich betrieben: Innerhalb kurzer Zeit setzten sich
seine Drucke dank ihrer guten Qualität am Markt durch, er
bekam den Titel „Verleger des königlichen Musikkonservatoriums“ verliehen.
1814 gelang es ihm, mit der Scala einen Exklusivvertrag zu schließen,
der ihn berechtigte, alle dort zur Aufführung kommenden Opern
zu vertreiben. Es folgten ähnliche Verträge mit großen
Häusern in Venedig und Neapel.
Ebenso wichtig waren die Verträge, die er mit Komponisten
abschloss, um diese langfristig an die Casa Ricordi zu binden:
darunter Gioacchino Rossini, Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti
und 1844 erstmals Giuseppe Verdi, mit „Nabucco“ und „I
Lombardi“.
Der Fokus auf das Musiktheater ist Ricordi bis heute erhalten
geblieben. Das korreliert mit dem Drang der Komponisten, Oper und
Musiktheater
zu machen. Gleichzeitig ist Oper aber auch das ideale Mittel, um Öffentlichkeit
für die Neue Musik zu schaffen. Expansion des Verlagshauses
Zurück nach Mailand: Als Giovanni Ricordi 1853 starb, übernahm
sein Sohn Tito Ricordi d. Ä. (1811–1888) die Verlagsleitung.
Er erwarb 1888 auf Anraten Verdis das Verlagshaus Lucca und holte
damit Werke von Meyerbeer, Halévy, Gounod, Ponchielli und
Catalani zu Ricordi, einschließlich der italienischen Rechte
an den Werken Wagners. 1919 beendete das Ausscheiden Tito Ricordis
d. J. (1865–1933) die Ära des Familienunternehmens Ricordi. Heute hat Ricordi Niederlassungen in Mailand, Paris, London,
Budapest und München. Die Münchener Niederlassung des Verlags,
die 1945 aus der Leipziger Filiale hervorging, vertritt die Kataloge
der Schwesterfirmen in Deutschland, Tschechien, Polen, Schweiz
und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die drei Hauptschwerpunkte
sind Werkausgaben, Pädagogik und Neue Musik.
Es erscheinen die kritische Ausgabe der Werke von Giacomo Meyerbeer
sowie Werkausgaben von Alexander Zemlinsky, Karel Reiner und
Manfred Gurlitt. Geschäftsführer Reinhold Quandt initiierte
erst vor kurzem in Kooperation mit der Internationalen Simon-Mayr-Gesellschaft
in Ingolstadt die Herausgabe des gesamten Schaffens des bayerischen
Komponisten Johann Simon Mayr, der in der Nähe von Ingolstadt
geboren wurde, zu seinen Lebzeiten als Opernkomponist weit über
Europa hinaus gerühmt und in Italien liebevoll „Papa
Mayr“ genannt wurde.
Mayr war ein Lehrer Donizettis, nahm eine Mittlerfunktion zwischen
Mozarts Opernschaffen und dem italienischen Belcanto ein und galt
sogar als „Vater der italienischen Oper“. Erst jüngst
brachte das Staatstheater Braunschweig die deutsche Erstaufführung
von Mayrs „Fedra“ – seit 161 Jahren (damals in
New York) die erste Aufführung einer Mayr-Oper – heraus.
Und das ist erst der Anfang: Da Mayr nahezu 70 Opern geschrieben
hat, steht den Münchnern entsprechend Arbeit ins Haus. Vertrauen in die Komponisten
Ricordi München bindet seine etwa 25 Komponisten nicht an
Exklusivverträge. Aber: „Wir verlegen jedes Werk, das
uns unsere Komponisten anbieten“, sagt Michael Zwenzner,
der für die Promotion zuständig ist, „die Vertrauensbasis
ist das Entscheidende“. Vinko Globokar, Heiner Goebbels,
Klaus Huber, Emmanuel Nunes, Younghi Pagh-Paan, Samir Odeh-Tamimi,
Rolf Riehm, Bettina Skrzypczak, Nikolaus Brass oder Enno Poppe,
dessen Musiktheater „Arbeit Nahrung Wohnung“ aktuell
auf der Münchener Biennale seine Uraufführung erlebte.
Der Verlagspromoter Michael Zwenzner ist sichtbar zufrieden, wenn
er Namen aus dem aktuellen Ricordi-Katalog nennt. Aber er ist auch
Realist: „Es sind stachlige Stücke im Katalog, Stücke
wider den Zeitgeist. Radikalere Positionen – wie bei Ricordi
stark vertreten – haben es heute schwerer, wo viel Musik
komponiert wird, die sich an Publikumserwartungen und an die Routine
der meisten Opernhäuser und der Orchester anpasst.“ Dass
etwa „Das Schweigen der Sirenen“ von Rolf Riehm oder
Klaus Hubers zentrales Meisterwerk „Schwarzerde“ seit
ihren Uraufführungsproduktionen nie wieder aufgegriffen wurden,
verweist auf Tendenzen, die ihn beunruhigen.
Die Furcht vieler Branchenkenner, dass die Verlage das Vertrauen
in Komponisten verlieren, „die emphatisch am Kunstanspruch
festhalten“, teilt Zwenzner nicht und präsentiert vier
neue Komponisten bei Ricordi, die garantiert keine Eintagsfliegen
sind: die Deutsche Annette Schlünz, der Tscheche Jan Jirásek,
der Franzose Fabien Lévy und der Russe Sergej Newski.
Andreas Kolb |