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Die 11. Münchener Biennale · Von Marco Frei
Einiges gab es bei der 11. Münchener Biennale für neues
Musiktheater zu entdecken, am wenigsten allerdings das diesjährige
Motto „Fremde Nähe“. Kein Wunder, werden doch
die von Biennale-Leiter Peter Ruzicka eingeführten Mottos
den eingereichten Partituren – in diesem Jahr von Enno Poppe,
Klaus Lang, Carola Bauckholt und Jens Joneleit – nachträglich übergestülpt.
So war es also nur konsequent, dass sich in „hellhörig“ der
1959 geborenen Bauckholt die „Fremde Nähe“ zu
einem blauen Ei wandelte. Hervorgezaubert wurde es unter einem
Rock, nachdem eine der drei Solisten wie ein Huhn gegackert hatte.
Woher diese Lautmalereien und Klangaktionen, die sich mit Elektronik
und einem Cellotrio verbinden, kommen? Bauckholt hat bei Mauricio
Kagel studiert, dazu noch ein Schuss „Musique concrète“.
Letzteres gab es auch in Poppes „Arbeit Nahrung Wohnung“ zu
hören. Hier verarbeitet der 1969 geborene Sauerländer
Daniel Defoes’ Roman „Robinson Crusoe“ (Libretto:
Marcel Beyer, Regie: Anna Viebrock). Rückwärts – also
beginnend mit der Rettung Robinsons (Graham F. Valentine) und seines
Gefährten Freitag (Omar Ebrahim) durch die Seeleute (Neue
Vocalsolisten Stuttgart) – wird die Geschichte erzählt.
In einer Küche wird mit Gegenständen geklappert, getrommelt
und geraspelt, auf der einsamen Insel verweisen hingegen Klangaktionen
mit Strandgut wie Ölfässern oder Holz auf den konkreten
Handlungsort. Ansonsten tönen Keyboards, Klavier und Schlagwerk:
Traditionelle Orchesterinstrumente gibt es in dem Werk, das auch
nach Berlin, Madrid, Wien und Venedig wandert, nicht. Zwar hat
sich Poppe schon zuvor mit Elektronik auseinandergesetzt, doch
noch nie in dieser Konsequenz. Auf ins Abstrakte, das war hingegen
die Devise in Langs „architektur des regens“. Dem 1971
geborenen Österreicher blieb auch nichts anderes übrig,
denn die Vorlage aus dem japanischen Nô-Theater verklausuliert
Lebensweisheiten in Versen. So spielte sich das Bühnengeschehen
in der Musik sowie im Lichtkonzept ab. Während es fragil und
vibratolos haucht, durchbrechen schließlich Lichtstrahlen
die schwarze Bühne: Jede einzelne Geste sucht eben das Licht.
Mit kleinsten Klangpartikeln arbeitet auch Joneleits „Piero – Ende
der Nacht“ nach Alfred Anderschs „Die Rote“,
um jedoch stets zu großflächigem Pathos zu finden. „Hörstück“ nennt
der 1968 geborene Offenbacher sein Werk, womit er an Luigi Nonos „Prometeo“ von
1981/85 anknüpft. Hierzu ließ die Raumkonzeption von
Gunnar Hartmann das Publikum auf zwei gegenüberstehenden Tribünen
sitzen. Darunter hockte das unter Yuval Zorn fesselnde Ensemble
Modern, dazwischen und auf den obersten Zuschauerreihen agierten
die Sänger.
Das war’s auch schon mit der „Fremden Nähe“.
Spannend war indes die Frage nach den Chören, was insbesondere
für die Uraufführungen von Joneleit und Poppe galt. Wenn
es in Joneleits „Piero“ um die letzten vier Tage im
Leben eines Lagunenfischers geht, so trägt der Chor einerseits
dessen Gedanken weiter, löst sie auf und verändert sie: „Erlebte
oder erinnerte Sinneseindrücke spiegeln sich in der Vielstimmigkeit
des Chores“, so Joneleit. Andererseits reflektiere der Chor „auf
einer zweiten Ebene – in anderer Sprache – die Gedanken
anderer Menschen, die namenlos bleiben“. Einmal Gedachtes,
einmal Empfundenes löse sich vom Individuum, „bewegt
sich von ihm fort und bildet Linien, die sich mit anderen schneiden“.
Der Chor also als Rolle und dramaturgisches Mittel, bei Poppe kommt
zudem eine besondere musikalische Komponente hinzu: Hier ist der
Chorgesang von sakralen Vokalchorälen aus Schottland geprägt. „Die
Leute singen einstimmig, aber nicht zusammen, sondern immer etwas
zeitversetzt“, so Poppe, „und sie verschleifen die
Töne ganz eigenartig“.
Auch 2010 darf man auf Entdeckungen abseits des Biennale-Mottos
gespannt sein. Dann stehen Werke von Philipp Maintz, Márton
Illés und Lin Wang sowie ein Amazonas-Projekt auf dem Programm,
für 2012 ist eine Kooperation mit der Bayerischen Staatsoper
geplant.
Warum indessen bei der Münchener Biennale große Chorensembles
selten sind, hat wohl auch einen finanziellen Grund: Zumindest
erklärte Ruzicka auf einer Pressekonferenz, dass seit 1996
der Biennale-Etat bei 1,25 Millionen Euro liege, obwohl die Honorare
und Gagen seitdem gestiegen seien.
Marco Frei |