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Kleine Oper, große Zukunft
Ein eigenes Haus für die Kinderoper in Dortmund · Von
Christian Tepe Kinder sind en vogue. Deutschland entdeckt sein Herz für
die Kleinen: Die politische Prominenz lässt keine Chance ungenutzt,
neue Betreuungseinrichtungen zu versprechen, Verbesserungen für
Familien in Aussicht zu stellen oder mit pädagogischen Innovationen
aufzuwarten. Wie es tatsächlich um die Interessen der jungen
Menschen steht, verrät ein Fußmarsch durch fast jede
beliebige deutsche Großstadt. Beton, verwahrloste Verkehrswüsten,
Shoppingzonen, strikte Funktionalität: das sind keine Welten
der Phantasie und Kreativität, wo Kinder spielen und leben,
geschweige denn sich frei entfalten können.
Doch Halt! In Dortmund kann es einem neuerdings passieren,
dass der Autolärm auf dem stark belasteten Hiltropwall plötzlich
von einem wilden Chor aufgeregter Kinderstimmen marginalisiert
wird, die sich lustvoll in ungewöhnlichen Tonfolgen ergehen,
wie man sie sonst eher aus der Oper kennt. Wo sich bis vor kurzem
noch ein grauer Parkplatz befand, entdeckt das Auge erfreut eine
aparte Architektur mit auffallendem Dach in Form eines Schildkrötenpanzers.
Sie beherbergt das neue, eigens für Kinder erbaute Opernhaus
in direkter Nachbarschaft zur großen Schwester und zum Schauspiel.
So viel ist schon gewiss: Dieses Gebäude wird auch dann noch
vor Leben überschäumen, wenn die wohlfeilen öffentlichen
Debatten um das Beste für die Kinder längst wieder verstummt
sind. Keine Berührungsängste
Anfang Mai wurde das Bauwerk mit 99 Plätzen und einer 10 mal
10 Meter großen Bühne von den Kindern in Besitz genommen.
Das Ensemble der Wiener Taschenoper hatte zu den Eröffnungsfeierlichkeiten
das Märchen vom tapferen Schneiderlein mitgebracht, erzählt
in der durchaus experimentellen Klangsprache des Komponisten Wolfgang
Mitterer. Fasziniert vom Ausdrucksreichtum der menschlichen Stimme
improvisieren die jungen Besucher nach der Vorstellung draußen
spontan über all die exponierten Läufe, Intervallsprünge
und Figuren. Berührungsängste vor zeitgenössischer
Musik, wie sie die Großen haben, sind ihnen fremd. Leider
blieb der 30 Musiker fassende Orchestergraben ausgerechnet zur
ersten Premiere geschlossen, denn das Stück ist instrumental
mit einem Kontrabassisten und einem Spieler für Keyboard und
Samples zumindest optisch äußerst asketisch besetzt.
Das Gastspiel der Wiener Taschenoper gehorcht noch der bekannten
Dramaturgie einer Opernaufführung für Kinder durch Profis. Über
die Stücke und Spielformen des Genres wurde in einem Kolloquium
intensiv und kontrovers diskutiert. Profunde Könner und Kenner
aus Theaterpraxis und Wissenschaft wie Christian Schuller und Gunter
Reiß waren zu einem Erfahrungsaustausch mit Pädagogen
und Eltern nach Dortmund gekommen. „Wer soll eigentlich sagen,
was die Kinder wollen und sollen?“, fragte ein Zuhörer – um
hinzuzufügen: „Wir müssen uns von den Kindern sagen
lassen, was sie bewegt.“
In diese Richtung denkt auch Initiatorin Christine Mielitz.
Sie verknüpft mit dem neuen Haus zugleich einen ästhetischen
Aufbruch: die Idee eines Musiktheaters mit Kindern für Kinder,
bei dem die jungen Menschen sich nicht nur als Geschöpfe,
sondern auch als Schöpfer von Kunst und Musik erfahren. Für „Oper&Tanz“ sprach
Christian Tepe mit der Regisseurin und Dortmunder Opernintendantin über
ihre Motivationen und Pläne für die Kinderoper.
Oper & Tanz: Die kommerzialisierte ästhetische Rummelwelt
unserer Tage legt gerade die heranwachsenden Menschen immer stärker
auf die Rolle des vereinzelten und passiven Konsumenten fest. Wie
unterstützt die Kinderoper junge Menschen bei der gemeinsamen
Suche nach Ausdrucksformen für ihr eigenes Leben?
Christine Mielitz: Mir geht es nicht darum zu klagen, dass wir
diese Welt haben, denn wir haben sie. Wichtiger ist es zu erkunden:
Wie können wir diese Welt auch genießen? Wie können
wir auch Freude in dieser Welt empfinden? Wie können wir einfach
trotzdem gerecht bleiben, so dass nicht jeder immer gleich das
größte Stück vom Kuchen kriegen muss? Das Theater
hat viel Zeit gebraucht, dem Individuum Freiraum zu verschaffen.
Ein großer Teil der musikalischen Literatur handelt davon,
wie sich der Mensch aus Zwängen befreit – denken Sie
nur an das große Zusammentreffen von Solisten und Chor in
der Oper. Doch heute lautet die Frage fast umgekehrt: Wie gelingt
dem Individuum der Weg zurück in die Gemeinschaft? Und gerade
das ist meine Motivation für die Gründung der Kinderoper
gewesen. Für dieses Ziel sollten wir keinesfalls auf die Mittel
des musikalischen Theaters verzichten, das uns ja nicht nur Wissen,
sondern gelebtes Leben und gelebte Erfahrung auf eine so umfängliche
Weise nahebringt. Es geht nicht darum, die bestehende Welt zu bekämpfen,
sondern sie runterzuschlucken, aufzufressen und neu auf dem Theater
noch mal auszuspucken. Ich sage es jetzt einmal wie Richard Wagner:
Theater bedeutet Selbsterneuerung.
O&T: Was genau verleiht dem
Musiktheater für Kinder solche
Zauberkräfte?
Mielitz: Das musikalische Theater macht entscheidende
emotionale Punkte im Leben klar: Man muss einander zuhören, man empfindet
einen Schreck, man entwickelt so etwas wie Taktgefühl. Das
sind alles Dinge, die man ins Leben mit hineinnehmen kann und die
diese laute Zeit vielleicht zu wenig schätzt. Wir haben so
viele Begriffe gar nicht mehr bei uns, die wir beherzigen sollten.
Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit oder auch die Fähigkeit, sich
ohne Nutzen für etwas einzusetzen und dadurch eine unbezahlbare
Befriedigung zu erleben. Alle diese seelischen Vermögen müssen
zunächst einmal in Erinnerung gebracht werden, denn sie sind
einfach wichtig für das Wesen Mensch.
O&T: An der künstlerischen Umsetzung dieser Konzeption
werden auch junge Menschen selbst beteiligt sein. Opernproduktionen
mit Kindern für Kinder bedürfen jedoch musikalisch geschulter
und in gewissem Grade ausgebildeter Kinder.
Mielitz: Es ist ein ganz besonderes Alleinstellungsmerkmal,
dass wir mit der Chorakademie Dortmund, an der 1.300 Kinder unterrichtet
werden, eine der größten Singschulen Europas vor Ort
haben. Manche Kinder gehen nur einmal die Woche dahin und nehmen
das eher locker, andere leben im Internat und widmen sich täglich
mit großer Disziplin und Konzentration ihrer Ausbildung.
Diese unterschiedlichen Gruppierungen können wir richtig abrufen.
Wir können zum Beispiel sagen, wir wollen von Britten den „Kleinen
Schornsteinfeger“ machen, da brauchen wir bitte einen siebenstimmigen
Chorsatz. Das ist natürlich ein Reichtum in der Stadt, der
auch das Spielen mit Kindern für Kinder unglaublich erleichtert.
Dabei finde ich ganz wichtig, dass das Prozesshafte dieser Arbeit
verdeutlicht wird und dies den Kindern Mut macht, indem sie erkennen: „Das
ist noch nicht ganz fertig, das kann ich lernen.“ Wenn man
bedenkt, dass Mozart sein „Bastien und Bastienne“ mit
zwölf Jahren geschrieben hat, sollten auch wir wieder die
Courage haben, zu fragen: Gibt es Kinder, die sagen: „Moment
mal, für euch drei schreibe ich etwas?“ Die Kinderoper
schafft dafür einen großen Freiraum, ohne die Professionalität
zu vernachlässigen.
O&T: Wie ist es denn um die
Mitwirkungsmöglichkeiten von
Kindern bestellt, die im Gegensatz zu den Mitgliedern der Chorakademie
noch über keine eigenen szenisch-musikalischen Erfahrungen
verfügen und gerade deshalb von einer aktiven Teilnahme an
der Kinderoper sehr profitieren könnten?
Mielitz: Es gibt sogar Kinder, die singen wunderbar
und sagen trotzdem: „Das
reizt mich gar nicht, ich bin interessiert, wie diese Lichtstimmungen
am Computer gemacht werden.“ Es ist sehr wichtig, die Kinder
da abzuholen, wo sie auch leben. Die werden am Computer von der
ersten Klasse an geschult; vielleicht gelingt es, das Theater sogar
in ihre Computerwelt hineinzubringen. Die Kinder-oper soll zeigen:
Theater heißt nicht nur singen, musizieren und tanzen, sondern
da ist auch der Tontechniker dabei, da ist auch der Maler dabei,
da ist auch der Beleuchter dabei. Was so leicht aus den Augen gerät:
Ein Theater ist ein riesiger Arbeitgeber, ein großer sozialer
Faktor in einer Stadt.
O&T: Wie sieht die Zukunft
der Dortmunder Kinderoper aus?
Mielitz: Natürlich ist diese kleine Kinderoper wie ein Kind:
Es sind noch nicht alle Schuhe da und es ist noch nicht jedes Kleid
ein Vorhang, es ist noch nicht jeder Scheinwerfer angeschafft.
Aber es soll eben nicht so sein, dass alles, was mal in der großen
Oper kaputtgegangen war, hier halb repariert reingehangen wird.
Wir haben den Anspruch, den Kindern zu sagen: Ihr seid die Zukunft
und für euch allein ist das da. Aber das alles kostet Geld,
es muss erwirtschaftet werden. Dazu müsst ihr uns besuchen,
zeigt euer Interesse, sagt uns, was ihr braucht, schreibt die Wunschzettel
nicht an den Weihnachtsmann, sondern an den Förderverein,
der fortlaufend immer mehr Mittel einwirbt. – Überdies
gibt es eine sehr ungewöhnliche Unterstützung von 30.000
Euro pro Spielzeit seitens des größten Energiebetriebes
in der Stadt. In dieser Aufbauspielzeit sind erst mal alle Beträge
in den Bau selber gegangen. Den Spielbetrieb unterhalten wir im
Moment allein mit Mitteln unseres Theaters, was nur durch ein hohes
Maß an Idealismus aller künstlerischen und technischen
Mitarbeiter möglich ist, wofür ich den Kollegen sehr,
sehr dankbar bin.
O&T: Und wir danken Ihnen
herzlich für das Gespräch. Christian Tepe |