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Der Chor in der Hauptrolle
Henzes „Bassariden“ an der Bayerischen Staatsoper · Von
Juan Martin Koch
Wer den Zuschauerraum des Nationaltheaters früh genug betritt,
bekommt ein seltenes Bild geboten: sämtliche Mitglieder des
Bayerischen Staatsopernchores in Überlebensgröße.
Langsam fährt eine Kamera an ihnen und einigen Kindern der
Statisterie vorbei. Wir machen uns mit ihnen vertraut, das ein
oder andere Gesicht prägt sich ein, und als sich dieser Projektionsvorhang öffnet,
fangen wir unwillkürlich an, sie aus der nunmehr ebenso entfernten
wie geschrumpften, gut 70-köpfigen Menge herauszusuchen.
Christof Loy hat, daran kann auch im weiteren Verlauf seiner bemerkenswert
zeitlosen Inszenierung kein Zweifel bestehen, Hans Werner Henzes
Euripides-Adaption „Die Bassariden“ zu weiten Teilen
als Choroper inszeniert. Die Bewohner Thebens bevölkern
nicht einfach die Szenerie im Sinne dekorativer Tableaus, sie sind
zentraler Bezugspunkt der Handlung, ihr Motor, ihr Subjekt. Das
wenige, das Johannes Leiacker an Bühnenbild anbietet – ein
großes weißes Tuch beherrscht in der Mitte die ansonsten
kahle Bühne –, wird erst durch die Anwesenheit des immer
wieder in fein strukturierte Einzelgruppen sich aufteilenden, also
nicht als anonyme Masse verstandenen Volkes zu einem Raum. Den
darin agierenden Antagonisten wächst allein durch seine Präsenz
eine Identität zu: Pentheus als dessen König, Dionysos
als die im Lauf des Stücks immer rückhaltloser anerkannte
Gottheit.
Die Musik gibt Loy Recht, denn Henzes Regieanweisung für
eine Szene zu Beginn des ersten Satzes der in symphonische Vierteiligkeit
gegliederten Oper kann auf viele weitere Passagen übertragen
werden: Der „Gesang der Bassariden“ bildet den „Hintergrund“,
eine klangliche Grundsubstanz, von dem sich die Solopartien kontrastierend
(Pentheus) oder korrespondierend (Dionysos) abheben. Den vielfältigen
Anforderungen, von der üppigen Expansion in dynamische Grenzbereiche über
schroffe rhythmische Deklamation bis zu betörenden Piano-Flächen
war der Staatsopernchor in der Einstudierung Andrés Másperos
glänzend gewachsen. Dieser musikalischen Leistung, der die
intensive szenische Umsetzung von Loys Konzept in nichts nachstand,
verdankte der Abend zu einem erheblichen Teil seine Eindringlichkeit.
Marc Albrecht koordinierte alles vom Pult des fabelhaften Staatsorchesters
aus souverän und hielt die betörend zwischen tonal angereicherter
Zwölftönigkeit und aufgerauter Postromantik changierende
Partitur immer unter Spannung.
Kaum minder bezwingend die solistischen Leistungen: Die kompetent
besetzten Nebenrollen (Sami Luttinen als Kadmos, Christian Rieger
als Hauptmann und Eir Inderhaug als Autonoe) wurden überstrahlt
vom prägnant charakterisierenden Reiner Goldberg als Teiresias-Tunte
und Hanna Schwarz als berührend altersloser Amme Beroe. Michael
Volle verströmte als Pentheus machtvolle, nach und nach von
Zweifeln und Ängsten erschütterte Autorität, Nikolai
Schukoff war als zeitweise mikrofonierter Werbesänger in eigener
Sache ein verführerischer, in letzter Konsequenz aber vielleicht
nicht genügend bedrohlicher Dionysos. Gabriele Schnaut verwandelte
Agaues anfängliches Keifen nach und nach in kontrolliertere
Ausdrucksbereiche. Aus dem erstmals seit Henzes Streichung nach
der Uraufführung 1967 wieder aufgeführten Kalliope-Intermezzo
(erfrischend überdreht und doch länglich) ging sie stimmlich
gestärkt hervor. Mit der Katharsis im vierten Satz – den
blutenden Kopf ihres Sohnes zieht sie unter dem wie von Schwangerschaft
gewölbten Kleid hervor – gestaltete sie einen erschütternden
theatralischen Moment.
Dies ist eines der wenigen Ausrufezeichen, die Christof Loy in
seiner bewusst zurückgenommenen, auf die Klarheit der Personenkonstellationen
konzentrierten Deutung setzt. Auch für das orgiastische Potenzial,
das die Hinwendung der Thebaner zum Dionysos-Kult nahegelegt hätte,
findet er ein schlüssiges Bild ohne grellen Effekt: Nicht
als frivole Anwandlung, sondern besonnen, ihre körperliche
Würde wahrend, entledigen sich Viele ihrer Kleider und tragen
sie wie eine Opfergabe vor sich her.
Und würdevoll tritt der Chor auch ab, sich selbst hinter
dem weißen Vorhang auslöschend. Doch sein Gesang verstummt
nicht; beklommen, mit einem Rest Skepsis über den Triumph
horcht Dionysos dem Nachhall.
Juan Martin Koch
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