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Jedem Kind seine Stimme
Ein Frankfurter Modell gegen den Musiknotstand · Von Gerhard
Rohde Früher hatten nur böse Menschen keine Lieder. Jedenfalls
behauptete das ein Sprichwort, das empfahl, sich nur dort niederzulassen,
wo gesungen wird. Heutzutage ist das Böse allerdings kaum
noch zu erkennen. Auch Gutmenschen kennen keine Lieder und singen
können sie schon überhaupt nicht mehr. Dass der unbefriedigende
Zustand bereits in der Schulzeit beginnt, darüber wird immer
wieder viel geredet, und wenig, oft überhaupt nichts geschieht.
Nur auf Fachtagungen zum Thema erfährt der interessierte Nichtfachmann,
wie wichtig doch die Ausübung von Musik für die Persönlichkeitsbildung
gerade für Kinder und Jugendliche ist. Die Stichworte heißen:
Phantasie anregen, emotionale Kräfte freisetzen; über
Singübungen, rhythmische Bewegungen, Spielformen sich des
eigenen Körpers bewusst zu werden, mit den Möglichkeiten
des Körperlichen etwas zu gestalten, schließlich und
besonders wichtig: In der Gemeinschaftsleistung eines kollektiven
Musizierens/Singens so etwas wie eine soziale Kompetenz zu erfahren.
Nur gemeinsam lassen sich viele Projekte in der Musik verwirklichen.
Jeder ist wichtig, um zum Erfolg zu kommen.
Vom Kopf auf die Füße
In Frankfurt am Main will man nun dem allgemeinen Musiknotstand
an den Schulen ein Ende bereiten. Zu diesem Zweck vereinigten sich
die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst mit der 2001
von Ulrike Crespo gegründeten Crespo Foundation, denn ohne
einen finanzkräftigen Partner aus der privaten Sphäre
lassen sich selbst ambitionierte und sinnvolle Projekte heutzutage
kaum noch realisieren.
Das Frankfurter Modell erhielt den Titel „Primacanta – Jedem
Kind seine Stimme“ und läuft, nach einem erfolgreichen
Feldversuch, mit Beginn des nächsten Schuljahres an etwa der
Hälfte der 75 Frankfurter Grundschulen an. Das „Primacanta“-Modell
stellt den herkömmlichen Musikunterricht gleichsam wieder
vom Kopf auf die Füße. Statt die Kinder mit musikalischem
Bildungsgut zu füttern, werden sie selbst zum Bildungsgegenstand
erhoben. Sie müssen lernen, ihre Stimme zu gebrauchen – das
menschliche Urinstrument sozusagen – , sich tänzerisch-rhythmisch
zu bewegen, Spielphantasien zu entwickeln, mit Schlaginstrumenten
und Klangerzeugern umzugehen, in der Gemeinschaft dann aus allem
erste formale Spielanordnungen zu entwickeln. Große Begeisterung
„
Primacanta“-Projektleiter Felix Koch hat einen ersten Praxistest
mit einer vierten Klasse der Frankfurter Liebfrauenschule in einem
Film festgehalten. Die Reaktionen der Schüler auf den Versuch
sind mehr als positiv: Singen macht Spaß, sagen viele, auch
sich zu bewegen, zu tanzen, zu musizieren. Felix Koch glaubt, dass
in der nächsten „Primacanta“-Runde auch die anderen
Frankfurter Grundschulen mit von der Partie sein werden. „Alle
Kinder in Frankfurt sollen singen lernen und ihre Lieder nach Hause
in ihre Familien tragen – damit werden wir langfristig auch
die Musik- und Kulturszene in Frankfurt nachhaltig verändern“,
das sagt Thomas Rietschel, Präsident der Frankfurter Musikhochschule,
die die „Musikalische Bildung“ zum Entwicklungsschwerpunkt
ihrer Arbeit erhoben hat. Das „Primacanta“-Projekt
wird von der Hochschule mit ihrer Musiklehrerausbildung verbunden.
Jeder Studierende, der die Hochschule verlässt, soll in der
Lage sein, im Bereich „Stimme“ kompetent mit Kindern
in der Grundschule zu arbeiten.
Das Konzept für „Primacanta“ wurde von Gero Schmidt-Oberländer
von der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in
Weimar zusammen mit vier weiteren Pädagogen anderer deutscher
Hochschulen entworfen. Lehrende für das Fach Musik an Grundschulen
sollen befähigt werden, nach den Prinzipien des „Aufbauenden
Musikunterrichts“ insbesondere im vokalen Bereich zu arbeiten.
So genannte „Coaches“ werden als ausgewiesene Spezialisten
den Unterricht der neuen Lehrkräfte in der ersten/ zweiten
Klasse mit betreuen. So wird ein reger Erfahrungsaustausch möglich.
Die Mehrkosten, die durch neue Lehrkräfte sowie durch die
Freistellung bereits festangestellter Lehrer für das „Primacanta“-Projekt
in Höhe von knapp zweihunderttausend Euro entstehen, trägt
die Crespo Foundation. Wofür diese alles Lob verdient.
Gerhard Rohde |