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Großes Solo für den Chor
Chorklangprofile in Oldenburg, Köln und Essen · Von
Christian Tepe Den Opernchor stellte Richard Wagner in seinen Schriften gerne
als obsolete Erscheinungsform der Prunk- und Ausstattungsoper hin: „Der
massenhafte Chor unserer modernen Oper ist nichts anderes als die
zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaschinerie des Theaters.“ Scheinbar
im Widerspruch zu diesen Verlautbarungen sind die Chorszenen in
seinen eigenen Opern theatralisch stets sehr wirkungsvoll. Wenn
Wagner seine Werke selbst inszenierte, setzte er alles daran, die
anfangs oft steif und hölzern agierenden Chorsänger zur
vollen Beteiligung am dramatischen Geschehen zu führen. Der
individuelle Ausdruck in Haltung, Blick und Gebärde sollte
die überkommene Opernschablone beseitigen.
Verbannung hinter
die Bühne
Was seinerzeit mühsam erkämpft werden musste, gehört
heute, nach der längst abgeschlossenen Professionalisierung
des Berufs, zu den selbstverständlichen Qualifikationen jedes
Opernchormitglieds. Doch heißt dies keineswegs, dass die
schauspielerischen Fähigkeiten der Sänger nun auch in
den aktuellen Inszenierungen tatsächlich zur Geltung kommen
dürfen. In Oldenburg verbannt Alexander von Pfeil in seiner „Tannhäuser“-Inszenierung
den Chor fast durchgängig hinter die Bühne und zuletzt
auf die Ränge des Zuschauerraums. Immerhin: Durch den eigenartig
beseelten und schwingenden Vortrag der sehr spirituell interpretierten,
inwendig glühenden Pilgerchöre sind die von Thomas Bönisch
zudem sicher und präzise vorbereiteten Sänger vokal raumgreifend
präsent. Über welche Regiequalitäten von Pfeil eigentlich
verfügt, zeigt sich daran, wie minutiös jede seelische
Regung im Beziehungsgeflecht unter den Protagonisten körperlich
ausgedeutet wird. Davon profitiert im zweiten Aufzug endlich auch
der Chor. Hier gelingt dem Regisseur ein virtuos arrangiertes und
mit feinsinniger Ironie angereichertes Genrebild einer ebenso distinguierten
wie scheinheiligen Wartburg-Gesellschaft, das durch den lustvoll
befreiten Spielwitz der Chorsänger zum augenfälligen
Höhepunkt der Aufführung avanciert. Aggressive Sinnlichkeit
Es ist schon erstaunlich, wie individuell die Chorklangprofile
an den verschiedenen Bühnen ausgeprägt sind. Während
in Oldenburg ein durchaus glaubwürdiger Ton sublim vergeistigter
Religiosität dominiert, verblüffen im Kölner „Tannhäuser“ die
Pilgerchöre durch ihre fast aggressive Sinnlichkeit. Auch
die teils wuchtig geballten, teils dramatisch aufgespaltenen Chöre
im zweiten Akt hat Kölns Chordirektor Andrew Ollivant zu einem
prächtigen Hörerlebnis von großer Plastizität,
Schlagkraft und vokaldramatischer Intensität gesteigert. Regisseurin
Jasmin Solfaghari versucht wenigstens, die ergiebigen dramatischen
Möglichkeiten der Chorszenen voll auszuschöpfen, wie
zum Beispiel zu Beginn des letzten Aufzugs, wenn die aus Rom zurückkehrenden,
entsühnten Pilger teilnahmslos an der verzweifelten Elisabeth
vorbeiziehen. Stark im Atmosphärischen, bleibt Solfagharis
Deutung konzeptionell blass. Die modisch austauschbare Glaspalastästhetik
der Bühne wirkt willkürlich aufgepfropft. Es scheint
müßig, auf den im Stück behandelten Gegensatz von
Natur und Unnatur auch nur hinzuweisen. Zur Frühlingslandschaft
in Thüringen fällt heute einfach niemandem mehr etwas
ein. Vieldimensionaler Chorklang
Zumindest an szenographischer Phantasie
und amüsanten Regieeinfällen
mangelt es dem „Tannhäuser“ des Essener Teams
um Altmeister Hans Neuenfels nicht. Mit einem Alter Ego Wagners
als Titelhelden, mit Stangenwäldern, die sich in rauchende
Schlote verwandeln, mit bühnenbildnerischen Reminiszenzen
an Neuschwanstein und die Industriegeschichte des Ruhrgebiets – und
natürlich mit einem König Ludwig als Überraschungsgast
wird diese bunte Abfolge von Sketchen niemals langweilig, ohne
dass indes ein sinnstiftender Zusammenhang immer erkennbar ist – oder
auch nur erkennbar sein soll. Als wäre ein ironischer Kommentar
zu Wagners Bemühungen um ein bewegliches, ungekünsteltes
Spiel der Chorsänger beabsichtigt, stecken die gleichgeschalteten
Choristen zu Beginn der Festszene und zum Finale in skurril stilisierten
Einheitskostümen. Überhaupt nicht eindimensional wirkt
dagegen der sehr warme und leuchtende Chorgesang, der bei strenger
Wahrung einer homogenen Chorklangeinheit die Individualität
der Stimmen dennoch ahnungsweise durchschimmern lässt. In
dieser genau ausbalancierten Dialektik von Einzelstimme und Ensemble
setzt die Einstudierung von Chordirektor Alexander Eberle höchste
Maßstäbe. Vielleicht schwebte Wagner Ähnliches
vor, als er bei den Proben zu seinen romantischen Opern den Chorsängern
immer wieder zurief: „Schreit nicht, singt, singt so schön
als möglich, als wenn ihr lauter Solopartien vorzutragen hättet!“ – Fazit:
Alle besuchten Aufführungen beweisen die musikalische Klasse,
Leistungsfähigkeit und jeweils exklusive klangliche Profilierung
der Chöre; nur den Regisseuren fehlt es bisweilen an Interesse,
Ideen und Mut, mit den Chorsängern szenisch individuell zu
arbeiten.
Christian Tepe
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