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Musikalisches Sprechen auf der Bühne
Über die Textverständlichkeit im Operngesang · Von Jürgen
Kesting
„Was die Schönheit und den Wert, die wirkliche raison
d’être
des Singens ausmacht, ist die Verbindung, ist die unauflösliche
Einheit von Klang und Gedanken. Es ist nicht von Belang, wie schön
ein Klang ist – wenn er nichts ausdrückt.“ Reynaldo
Hahn, „Du Chant“.
Ein Blick auf die Programmzettel jedes deutschen Theaters, erst
recht auf die internationaler Festivals, zeigt, dass in den Ensembles
Sänger aus aller Herren Länder zusammengewürfelt
sind. Das Radebrechen wird zur sprachlichen Verkehrsform – ganz
abgesehen davon, dass es schwer ist, den Klang von Sängern
aus verschiedenen Ländern werkgerecht zu homogenisieren. Das
Timbre jeder Stimme ist zunächst klanglich und artikulatorisch
geprägt von der Muttersprache des Sängers, und es bedarf
einer hohen Begabung, sich in einer neuen Sprache nicht nur verständlich,
sondern eloquent und expressiv mitzuteilen.
Ein negatives Beispiel von den Salzburger Festspielen 2006: die
Aufführung der „Zauberflöte“ unter Riccardo
Muti. Die Rollen der drei Damen waren mit Sängerinnen aus
Lettland, Frankreich und Russland besetzt, die ihre Texte nicht
richtig, geschweige denn eloquent auszusprechen vermochten. Sind
die Besetzungsnöte schon so groß, dass drei mittlere
Partien nicht nach idiomatischen Kriterien besetzt werden können?
Oder sollte es Gleichgültigkeit gegenüber der Sprache – dem
Sinnträger des Werks – sein?
In Bayreuth dürfte es seit Jahrzehnten keine Aufführung
gegeben haben, die ausschließlich mit deutschen Sängern – oder
mit der deutschen Sprache mächtigen Sängern – besetzt
gewesen wäre. In der gleichen Zeit konnte keine einzige Oper
von Verdi im Plattenstudio ausschließlich mit italienischen
Sängern aufgenommen werden. Frankreich hat eine essentielle
Qualität des französischen Gesangs – die plastische
Diktion – nach dem Zweiten Weltkrieg preisgegeben, weil an
den großen Bühnen wie im Studio internationale Star-Besetzungen
für wichtiger angesehen wurden als die idiomatische Qualität.
Zwar gab und gibt es unter ihnen polyglotte Künstler, die
durch Akkulturation zu deutschen oder italienischen oder französischen
Sängern wurden, aber sie sind nicht in der Mehrzahl. Die wenigsten
aber sind in der Lage, die vier Nasalverbindungen, die fünfzehn
Vokalklänge, die Liaisons oder Endsilben so zu singen, wie
es von Pierre Bernac in seinem Buch „Die Interpretation des
französischen Lieds“ dargelegt worden ist. Für
die Sänger unserer Zeit sollte die Kenntnis dieser Bücher
verpflichtend sein. Dass dieser Prozess der Akkulturation möglich
ist, hat die amerikanische Mezzo-Sopranistin Susan Graham mit ihren
Berlioz-Aufnahmen ebenso bewiesen wie durch ihre Salzburger Aufführung
von „Iphigénie en Tauride“. Singen als Sinnvermittlung „Ohne eine gute Aussprache beraubt der Sänger die Hörer
um einen großen Teil des Zaubers, den die Vokalmusik mit
den Mitteln des Wortes entfaltet.“ Pier Francesco Tosi, „Opinioni
de’ cantori antichi e moderni o sieno Osservazioni sopra
il canto figurato“.
Seit der Frühgeschichte der Oper besteht Einigkeit darüber,
dass – so der Hofbeamte Carlo Magno in Mantua nach der Aufführung
von Claudio Monteverdis „Orfeo“ – „alle
Mitwirkenden musikalisch sprechen“. Anders gesagt: dass die
Musik im Dienst der Sinnvermittlung zu stehen hat. So heißt
es in einem Traktat von Ottavio Durante aus dem Jahre 1608: „Die
Sänger müssen danach streben, den Sinn dessen zu erfassen,
was sie zu singen haben, besonders wenn sie solo singen, damit
sie dadurch, dass sie dies selbst verstehen und sich zu eigen machen,
es ihren Zuhörern zum Verständnis bringen können.“ Diese
Musiksprachlichkeit geriet ein Jahrhundert später durch sängerische
Eitelkeit in Gefahr und provozierte den berühmten Traktat
von Pier Francesco Tosi: „Opinioni de’ cantori antichi
e moderni“. Diese Eitelkeit manifestierte sich im Übermaß „willkürlicher“ Verzierungen,
die das Wort überwucherten und damit dessen Sinn zerstörten.
Die Basis der Gesangssprache von Händel, Scarlatti und Vivaldi
bis hin zu Mozart, Rossini, Bellini und Donizetti – gemeinhin
unter dem Begriff „Belcanto“ subsumiert – war
zum einen die italienische Sprache, zum anderen eine gemeinsame
vokale Grammatik. Alle Sänger Mozarts waren – abgesehen
von denen der „Zauberflöte“ – entweder Italiener
oder, wie zum Beispiel Valentin Adamberger, italienisch geschult.
Adamberger, der erste Sänger des Belmonte, war in Italien
als Adamonti bekannt. Ludwig Fischer, der erste Osmin, hatte bei
Anton Raaff, dem ersten Sänger des Idomeneo, studiert, und
dieser war aus der Schule des Kastraten Antonio Bernacchi hervorgegangen,
dem Großmeister der Bologneser Gesangsschule. Er folgte der
Maxime, dass er es liebe, „einem Sänger die Aria anzupassen
wie ein gut gemacht’s Kleid“. Aber auch der verzierte
Gesang stand im Dienst des Ausdrucks. Als Mozart die 1777 für
Josepha Duschek geschriebene Andromeda-Arie „Ah, lo previdi … Deh,
non varcar“ KV 272 zusammen mit Aloisa Weber einstudierte,
mahnte er die Wahrheit des dramatischen Ausdrucks an: „… ich
empfehle Ihnen so viel als möglich Ausdruck – bedenken
Sie wohl den Sinn und die Gewalt der Worte – versetzen Sie
sich ernstlich in den Zustand und die Lage Andromedas!“
Der oft zitierte Brief, in dem Vincenzo Bellini sein Ringen um
dramatische Wahrheit beschreibt – „... in mein Zimmer
eingeschlossen, beginne ich, die Partie des Charakters im Drama
mit allem Feuer der Leidenschaft zu deklamieren und beobachte unterdessen
die Flexionen meiner Stimme, die Hast oder Ermattung der Aussprache
unter diesen Umständen … und dabei entdecke ich die
musikalischen Motive und die richtigen Tempi“ –, dieser
Brief also mag eine Erfindung seines biographischen Witwers Florimo
sein, aber es ist eine erfundene Wahrheit. Gleichwohl war Bellini
kein Musikdramatiker wie Wagner, der seine Texte – gerade
auch die oft verlachten Lautgebilde – nach den Kriterien
ihrer Musikalität oder besser: ihrer Sanglichkeit abfasste. Die musikalische Gebärde
„Die höchste Reinheit des Tons, die höchste Präzision
und Rundung, die höchste Glätte der Passagen … wie
die höchste Reinheit der Aussprache bilden das Fundament für
den Gesangsvortrag. … Was kann der Affekt hervorbringen,
wenn er die organischen Möglichkeiten überschreitet?“ Richard
Wagner Im 19. Jahrhundert ging mit der Entwicklung der Nationalopern
jene auch sprachlich fundierte Basis einer gemeinsamen Gesangssprache
verloren. Bewahrt werden konnte allein die Technik des Singens;
die Formeln der belcantischen Gesangssprache aber ließen
sich nicht erhalten. Die Eigenarten der deutschen Sprache waren
es, die Wagner als Hemmnis für die Entwicklung einer deutschen
Gesangskunst ansah. Können in der italienischen Sprache, so
schreibt er, die „äußerst dehnbaren Vokale durch
die anmutige Energie ihrer Konsonanten zu wirksamen Klangkörpern
gebildet werden, so enträt das Deutsche des Wohlklangs. Eine
Sprache mit meist kurzen und stummen, nur auf Kosten der Sinnverständlichkeit
dehnbaren Vokalen, eingeengt von zwar höchst ausdrucksvollen,
aber gegen allen Wohlklang durchaus rücksichtslos gehäuften
Konsonanten, muss sich zum Gesange notwendig ganz anders verhalten
als jene vorerwähnten Sprachen.“ Für die Entwicklung
des deutschen Gesangs sei es entscheidend, das richtige Verhältnis
zwischen Vokalen und Konsonanten zu finden.
Wagner erkannte deutlich, dass die traditionelle Gesangsausbildung
gerade in dieser Hinsicht an ihre Grenzen stoßen musste. „Das
Modell des italienischen Gesanges, des einzig als klassisch stilistisch
uns vorschwebenden, ist auf die deutsche Sprache nicht anwendbar;
hier verdirbt sich die Sprache und der Gesang wird entstellt: Und
das Ergebnis ist die Unfähigkeit des heutigen deutschen Operngesanges.“ Dass
die damaligen deutschen Sänger für den dramatischen Vortrag
in seinem Sinne ungeeignet waren, führte Wagner auf die „Bildung
nach dem fremden Gesangstypus“ und, als Folge, auf die Vernachlässigung
und Entstellung der eigenen Sprache zurück.
Wenn Wagner vom „Modell des italienischen Gesanges“ sprach,
war also in erster Linie die musikalische Manier gemeint, nicht
aber die Methode der Stimmbildung selber. Liege der Charakter des
italienischen Gesangs im „lang gedehnten Vokalismus“,
so müsse der deutsche Gesang geprägt sein vom „energisch
sprechenden Akzent“. Mit ebenso energischem Akzent betonte
Wagner, „dass hierbei eine eigentliche Verkümmerung
des Gesangswohllautes nicht aufkommen dürfe“. Folglich
soll es auch keinen Unterschied geben zwischen deklamierten und
gesungenen Phrasen: „Meine Deklamation ist zugleich Gesang
und mein Gesang Deklamation.“ Die Voraussetzungen dazu hat
er geschaffen unter anderem durch den Rückgriff auf die Alliteration
und den Stabreim. Dabei lag es nicht in der Absicht des Komponisten,
dass der Sänger alle Iterationen mit heftigen Akzenten versieht.
Im Gegenteil, diese Wiederholungen sollen vielmehr ihren eigenen
rhythmischen Effekt machen und den Wohllaut der tönenden Vokale
zur Geltung bringen. Aus der Wortsprache soll eine volle, klingende
Tonsprache entbunden werden. Aus dem Versmaß ergibt sich
der Rhythmus, durch den Endreim die Melodik. Der Sprachakzent soll
aber nur da gesetzt werden, wo er sich „zufällig der
Melodik anschließt“ – auch dies ein eindeutiges
Votum gegen den Sprechgesang. Von entscheidender Bedeutung sind
die in Wagners Texten gezielt eingesetzten konsonanten Klinger.
In den Aufnahmen von Lotte Lehmann, Frida Leider, der jungen Kirsten
Flagstad, Maria Müller, von Franz Völker, Lauritz Melchior
oder Friedrich Schorr wird deutlich, wie die Liquide (l und r)
und die Nasale (m und n) oder auch die Labio-Dentale in der Wortmitte
gleichsam als Gleitmittel und auslautend das Ausschwingen einer
Phrase ermöglichen.
Dass sängerische Unzulänglichkeiten durch darstellerischen
Einsatz, und dazu gehört auch das heftige verbale Agieren,
wettgemacht werden können – wie heute oft, und gerade
unter Berufung auf Wagner, behauptet wird –, lässt sich
durch die Ausführungen des Komponisten nicht rechtfertigen.
Im Gegenteil. „Lässt sich der Sänger von seinem
vorzubildenden Charakter überwältigen, steht er nicht
mit der notwendigen Beherrschung über dem ganzen Gebilde seiner
Darstellung: So ist gewöhnlich alles verloren. Man vergisst
sich, man singt nicht mehr, sondern man schreit, schluchzt. Die
Natur zieht dann nicht selten die Kunst aus, und der Hörer
steht plötzlich, unangenehm überrascht, auf dem Markt.“ Einheit von Klang und Gedanke
Die von Wagner beschriebene Einheit von Klang und Gedanke setzt
in der Aufführungs-praxis voraus, dass auf „größte
Deutlichkeit, und zwar zunächst der Sprache, zu halten [ist].
Eine leidenschaftliche Phrase muss verwirrend und kann abstoßend
wirken, wenn ihr logischer Gehalt unerfasst bleibt; um diesen von
uns mühelos aufnehmen zu lassen, muss aber die kleinste Partikel
der Wortreihe sofort deutlich verstanden werden können: ein
fallengelassener Vorschlag, eine verschluckte End-, eine vernachlässigte
Verbindungssilbe zerstört sogleich diese nötige Verständlichkeit.
Diese selbe Vernachlässigung trägt sich aber unmittelbar
auch auf die Melodie über, in welcher durch das Verschwinden
der musikalischen Partikeln nur vereinzelte Akzente übrig
bleiben, welche, je leidenschaftlicher die Phrase ist, schließlich
als bloße Stimm-Aufstöße vernehmbar werden, von
deren sonderbarer, ja lächerlicher Wirkung wir einen deutlichen
Eindruck erhalten, wenn sie aus einiger Entfernung zu uns dringen,
wo dann von den verbindenden Partikeln gar nichts mehr vernommen
wird.“ Dieser Passus ließe sich heute in so gut wie
jede Kritik einer Wagner-Aufführung einfügen.
In dem Musical „My Fair Lady“ spottet Professor Higgins über
Sänger, „die es nicht schert, was sie sagen, wenn sie
es nur richtig aussprechen“. Beispiele – als partes
pro toto – sind die Aufnahmen von Wagners „Tristan
und Isolde“ unter Antonio Pappano und von „Parsifal“ unter
Christian Thielemann mit Plácido Domingo. Dass der spanische
Tenor in aller Welt umjubelt wurde, verdankt er einem im Wagner-Gesang
selten gewordenen stimmlichen Wohlklang und der Kantabilität
in lyrisch-gebundenen Phrasen. Um die Artikulation der Texte steht
es allerdings, gerade wenn es um die Bildung kurzer, syllabischer
Passagen geht, nicht so gut, dass wirklich jede kleinste „Partikel
der Wortreihe sofort deutlich verstanden werden“ könnte.
Sorgt die Artikulation für die Verständlichkeit, so sichert
die Aussprache die Eloquenz und die Expressivität des Wortes.
Es liegt nicht nur an der unzureichenden Lautung von Vokalen – insbesondere
des >E< – und einiger Diphthonge, dass es dem spanischen
Tenor nicht gelingt, im Klang das „innerste Wesen der menschlichen
Gebärde“ abzubilden. Mit der korrekten Wortsprache allein
ist es nicht getan.
Es ist die „Intonation“, die Art und Weise des Sprechens,
in der ein Subtext anklingt. Der kanadische Tenor Jon Vickers war
vor idiomatischen Fehlern nicht gefeit, doch überzeugte er
immer durch die Einheit von Klang und Gedanke: Parsifal: „Amfortas!“ Zwei
Fs und ein E. Wie gelingt es, im Klang den Erkenntnisschock des
reinen Toren auszudrücken: Dass Parsifal in diesem Moment
begriffen hat, was Sünde ist? Florestan: „Gott!“ – es
ist ein einziges G, das spüren lassen muss, dass dieser Mann
alles verloren hat, dass er seiner Frau entrissen worden ist, dass
er unschuldig im Gefängnis sitzt und vom Tod bedroht ist und
doch seinen Glauben an Gott nicht verloren hat. – Die Antwort
kann ein Sänger nur geben, wenn Stimme und Geist zur Einheit
werden.
Jürgen Kesting
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