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Zwischen Träumen und Alpträumen
Peer Nörgards „Der göttliche Tivoli“ in Lübeck · Von
Peter Dannenberg
Der Orchestergraben in der Lübecker Oper prallgefüllt
mit Schlagwerk aller Art, darunter balinesische Instrumente, in
einer indonesischen Gamelan-Fabrik gefertigt nach den Anweisungen
des Komponisten, das alles bedient von sechs Spielern; dazu ein
Synthesizer und ein elektronisch verstärktes Cello: eine ins
Brutale sich aufbäumende Klangwelt. Peer Nörgard hat
sie geschaffen für Adolf Wölfli, der in 35 Jahren im
Irrenhaus zum Dichter, Zeichner und Musiker geworden ist und sich
mit seiner Kunst zu befreien versuchte aus einem elenden Leben.
Er ist hinter Gittern entflohen in eine unendliche Weite, die er
mit seinen Träumen und Ängsten, mit sich selbst in vielerlei
Gestalt bevölkert hat, aus Hoffnungen immer wieder ins Chaos
stürzend, ein „Fortsetzungsroman eines lückenlosen
Universums – zehnmilliardenmal höher als die paar Akten
zu seiner Person“, wie Adolf
Muschg 1986 so treffend geschrieben hat. Wölfli, 1930 in der Verwahranstalt bei Bern gestorben, ist
heute für die Verbindung von Genie und Wahnsinn eine der wichtigsten
Bezugspersonen. Seit Hans Prinzhorn seine Sammlung von Wölflis
Malereien der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat, fehlt sein
einstiger Patient in kaum einem Lehrbuch der Psychiatrie. Rilke
und Dubuffet beschäftigte sein Schicksal. Als Wolfgang Rihm
Bilder Wölflis sah, komponierte er, parallel zu seinem „Jakob
Lenz“, dem Porträt der Hellsichtigkeit im geistigen
Verfall, die Wölfli-Lieder. Fast gleichzeitig, seltsame Koinzidenz,
schrieb Peer Nörgard sein Musiktheater „Der göttliche
Tivoli“, das Innenwelt wie Außenwelt des im Leben wie
im Kopf Gestrandeten ineinander verschränkt. Er kehrt die
kargen Fetzen seines armseligen Daseins zusammen, das mit 31 Jahren
nach Notzuchtsversuchen an Kindern in die Irrenanstalt führte.
Er konfrontiert sie mit seinen Obsessionen. Wölfli war der
Freiheit beraubt, aber er türmte sich mit den überbordenden
Fluten seiner Schriften und Bilder, mit rastloser Sehnsucht und
Wut aufs Papier geworfen, ein grenzenloses Phantasiereich auf,
das er selbst in vielerlei Gestalt und Ungestalt bevölkerte.
Er erfand sich sein Leben neu. Größe und Größenwahn,
sie sind hier nicht mehr zu trennen. Nörgard hat mit instinktivem
Blick fürs Theater aus den Trümmern dieser Existenz und
seiner Träume und Alpträume eine formale Ordnung der
Szenen und Texte gezimmert, die den Ausbruch in die Unordnung immer
wieder erzwingt. Und Sandra Leupold, die junge Regisseurin in Lübeck,
hat anschaulich enträtselt, was so verrätselt scheint.
Sie hat zusammen mit ihrer Szenographin Barbara Rückert Bildwelten
und Räume erfunden, in denen die Realität buchstäblich
immer wieder davonfliegt und alle räumlichen Begrenzungen überwindet.
Der erste Teil des Stückes spielt in einer dörflichen
Gaststube mit Momenten aus dem Leben des jungen Wölfli – so
surreal verzerrt, wie sie der festgesetzte Wölfli in seinen
Erinnerungen wiederfindet. Und im zweiten Teil brechen die Gitter
und Wände des Eingekerkerten auf, der auf imaginäre Reisen
geht und immer wieder stürzt und abstürzt, bis er am
Ende, sich wie in einem Kokon in die Welt seiner Bilder, ihrer
Ornamente und Farben einspinnend, beruhigt und die Musik sich fast
choralartig nach einer von Wölfli komponierten Weise zurückzieht.
Seine Kunst wird nun gleichsam zur Retterin seiner selbst.
Am Anfang des Abends aber steht der geradezu chaotische Ausbruch
eines ausgedehnten Schlagzeug-Solos. Zwischen diesen Polen bewegt
sich Nörgards Musik, immer wieder wild und unbeherrschbar
ausbrechend,aus Besinnungs-Momenten konzentrierter Ruhe. Die Sänger,
die sich kaum auf kantable Sicherheitsnetze abstützen können
und in exaltierter Hochspannung zwischen Singen und Schreien, Sprechen
und Stottern immer neue Stimmungslagen durchmessen müssen,
haben in Lübeck Hochseilartistik nicht nur im Stimmlichen,
sondern auch im Agieren zwischen allen Höhen und Tiefen, zwischen
Flug und Fall abzuleisten. Sie schaffen es, geleitet von Dorian
Keilhack, der die vielen musikalischen Gratwanderungen durchmisst;
angeführt von Hubert Wild, der als erster der vier Wölfli-Aufspaltungen
den hohen Rang der Aufführung bestimmt.
„Der göttliche Tivoli“ beschließt die lange
Reihe neuer skandinavischer Opernwerke, die Generalintendant Marc
Adam
in seinen nun zu Ende gehenden Lübecker Jahren vorgestellt
hat. Er beschließt sie radikal. Mutiger im thematischen Zugriff,
in der szenischen und musikalischen Struktur als Peer Nörgard
hat sich keiner der Nordländer der Szene bemächtigt.
Man will es kaum glauben, dass dieses Stück, schon 1983 in
Aarhus uraufgeführt und mehrfach, nur nicht in Deutschland,
nachge-
spielt, schon ein Vierteljahrhundert alt ist. Es wirkt jünger,
attackierender als vieles, was seither und bis heute geschrieben
worden ist. Und obschon es quersteht zu allen gewohnten Erwartungshaltungen,
hat das Stück, hat vor allem auch seine Lübecker Einrichtung
zu Ovationen ohne Ende geführt.
Peter Dannenberg
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