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Wie der schwebende Säugling

Madernas „Hyperion“ in Stuttgart · Von Marco Frei

Um die Musik dreht sich alles in Bruno Madernas „Hyperion“. Sie ist die eigentliche Protagonistin der 1964 erstaufgeführten „Lyrik in theatralischer Form“. Klangaktion und Sprachgeräusch bestimmen die handlungslose Handlung und flexible Struktur dieser „Opera aperta“, die Hölderlins gleichnamigen Briefroman bestenfalls fragmentarisch nachvollzieht. In der gelungenen Inszenierung von Karsten Wiegand an der Staatsoper Stuttgart drehte sich ebenfalls alles um die Musik – und nicht zuletzt drehte sich ab und an auch der Pavillon, der die Bühne bestimmte (Bühnenbild: Bärbl Hohmann).
In ihm saßen die Streicher des Staatsorchesters Stuttgart, Bläser und Schlagwerk waren hinter dem Pavillon positioniert, der Chor bildete zugleich die Zuschauermenge in diesem Musikpark. Mit diesem einfachen Einfall hat Karsten Wiegand Madernas Idee und Konzept vollständig erfasst: Er holte die Musiker zentral auf die Bühne und ließ sie noch dazu darstellerisch agieren – die Musik als Hauptprotagonistin eben. Und da ist er also, der „flauto-poeta“, der Soloflötist: Zumindest assoziativ schimmert in seinen wortlosen Tonreden Hölderlins unverstandener Hyperion durch (fulminant: Mario Caroli, von Salvatore Sciarrino als „Paganini der Flöte“ tituliert).

 
Die Musik – das Orchester – als Protagonist in Madernas „Hyperion“. Foto: Sebastian Hoppe
 

Die Musik – das Orchester – als Protagonist in Madernas „Hyperion“. Foto: Sebastian Hoppe

 

Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution reflektiert der „Eremit in Griechenland“ über Bedingungen und Möglichkeiten revolutionären Handelns. Während der Rebell Alabanda Gewalt akzeptiert, möchte Hyperion zur Freiheit erziehen und eine universale Harmonie erreichen: Beide scheitern. Selbst Diotima, die Hyperion zuvor von der Notwendigkeit politischen Handelns überzeugt und ihm die allumfassende Harmonie vorgelebt hatte, scheitert – sie stirbt. Wenn es also zwischen Hölderlins Handlung und Madernas Klangwelten assoziative Zusammenhänge gibt, manifestieren sie sich in Konflikten.
So stößt traditionelles Instrumentarium auf Tonbandeinspielungen, generell begegnen sich in Bruno Madernas Musik Tradition und Avantgarde: Expressive Kadenzen werden von differenzierten Clustern und mikrotonalen Klangschleiern gebrochen, grelles Blech und bizarres Schlagwerk fahren dazwischen, auch Mandoline und Gitarre werden eingesetzt, aus Lautsprechern lacht und plappert es. Nuanciert und wohl strukturiert gestaltete Dirigent Enrique Mazzola die Klangwelten. Doch zugleich wurde Mazzola in Wiegands Inszenierung zum Protagonisten.

Verzweifelt war er etwa bemüht, den ausschweifenden Solokadenzen des Geigenprimus oder dem auslandenden Blech und Schlagwerk Einhalt zu gebieten, doch war es vergebens. Vielfach stach der Taktstock ins Leere, wurde das Dirigieren zur bloßen Performance. Denn in einer Musik, die neben streng fixierten Strukturen ebenso Zufall und Improvisation integriert, kann der Dirigent kaum Kontrolle ausüben oder auch nur beanspruchen. Und immer mehr entgleitet die abstrakte, handlungslose Handlung.

Zunehmend wirken die Akteure wie Karikaturen – oder besser: wie Marionetten, die gelenkt werden, ohne dass man wüsste, von wem oder was eigentlich. Selbst der Pavillon dreht sich willkürlich im Kreis. Einer jedoch kann es nicht ertragen, dass er das Geschehen nicht zu kontrollieren vermag, nämlich der von TV-Schauspieler Bernd Grawert dargestellte Alabanda. Gezeichnet wird er als Fanatiker, als Terrorist. Abgesehen hat er es vor allem auf Diotima, die mit dem Chor die einzige Trägerin des Wortes ist.

Das Menschenherz zergeht im Nichts, einzig bleibt die Wüste“: Mit ungeheurer Intensität gestaltete Sopranistin Melanie Walz, die 1997 in der Hamburger Uraufführung von Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ debütierte, Diotimas Wahrheiten. Alabanda kann sie nicht ertragen, er macht sie mundtot. Die Wahrheit verstummt und schließt ihre Augen, Diotima stirbt. Schließlich verjagt Alabanda noch den Dirigenten, die Musiker und den Chor, an den wahrhaftigen Flötendichter Hyperion traut er sich jedoch nicht heran.

Die Bühne leert sich, der Kinderchor erobert den sich drehenden Pavillon und imitiert ein Orchester. Dann die Worte: „Wie der schwebende Säugling atmen die Himmlischen“. Und da steht er nun, der „flauto-poeta“, der unverstandene Wahrhaftige. Ein letztes Mal berühren seine Tonreden – Licht aus, wortlos erschüttert bleibt man zurück. Und Diotima? Mit dem Streichquartett „Fragmente – Stille, An Diotima“ nach Hölderlin wird ihr Luigi Nono 1979/80 ein tönendes Denkmal setzen: „Schweigende Gesänge aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln,“ so Nono.

Marco Frei

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