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Geschickte Pädagogin
Die Choreografin Lynn Seymour · Von Malve Gradinger
Lynn Seymour hatte keinen leichten Stand, als sie 1978 von Generalintendant
August Everding als Ballettdirektorin an die Bayerische Staatsoper
geholt wurde – obwohl sie die besten Voraussetzungen mitbrachte.
Die 39-jährige Kanadierin, langjähriger Star des Londoner
Royal Ballet, gehörte – wie ihre einstige Mitstudentin
an der Royal Ballet School Marcia Haydée – zu den raren
außergewöhnlichen dramatischen Ballerinen des 20. Jahrhunderts.
Mit ihrer künstlerischen Ausstrahlung, eigenen choreografischen
Ambitionen und Kontakten zu den wichtigsten Künstlern der Zeit
hätte sie das damals dornröschenschläfrige Staatsopernballett
auf internationale Attraktivität hochpolieren können.
Und Seymour brachte tatsächlich internationale Gaststars, unter
anderem Rudolf Nurejew und Natalia Makarowa. Sie überließ,
talentespüriger als viele andere Ballettchefs, dem jungen William
Forsythe die Uraufführung „Joyleen gets up, gets down“
und brachte 15 neue Ballette ins Repertoire.
Schmerzhafte Erinnerung
Für sie jedoch waren die zwei Jahre Direktion des noch in
Opern-Abhängigkeit geknebelten Ensembles wohl eher ein schmerzhaftes
Lebenskapitel, nachzulesen in ihrer hoch spannenden Autobiographie
„Lynn“ (Granada Verlag, London, 1984). Aber auch sie
selbst hatte sich offensichtlich zu viel zugemutet: Noch unter Rollenvertrag
beim Royal Ballet pendelte sie zwischen London und München
– wo sie in Personalunion Starballerina, Choreografin und
Direktorin zu sein hatte. Und dazwischen war sie auch noch Mutter
von drei Kindern. Geschulte Kräfte, wie sie heute Staatsballettchef
Ivan Liska abstützen, von der persönlichen Ballettassistentin
bis zur Sekretärin und zwei für Dramaturgie, Presse und
Produktion verantwortliche Stellvertreter – in den 70er-Jahren
noch Fehlanzeige. Besonders enttäuschend für Seymour,
dass ihre Choreografien von 1978/79 („Intime Briefe“,
„Tatoo“, „Boreas“, „Rashomon“)
von der Münchner Presse nicht sehr gut aufgenommen wurden.
Rückkehr nach München
Nur die positiven Momente in Erinnerung bewahrend, ist sie für
die Einstudierung von Frederick Ashtons „Five Brahms Waltzes
in the Manner of Isadora Duncan“ im Rahmen der diesjährigen
Ballettwoche zurückgekehrt.
Aufregend, die Seymour bei der Probe zu erleben: wie sie die Staatsballettsolistin
Sherelle Charge behutsam aus ihrer Überbemühung herauslockert;
wie sie vormacht, die Arme fließen lässt, scheinbar völlig
kunstlos aus dem Gefühl heraus – die US-Tanzpionierin
Duncan, wiedergeboren hier im Probensaal, auf der Suche nach ihrem
neuen freien Tanz. Könnte Seymour in der Gala nicht wenigstens
einen der fünf Walzer selbst tanzen? „Nein“, wehrt
sie ab, „Das ist vorbei. Ich hab das alles gehabt.“
Natürlich, alles, von Petipa bis zu den Neoklassikern George
Balanchine und Jerôme Robbins, von dem modernen Felix Blaska
und dem feinsinnigen Antony Tudor bis zu dem in England Mitte der
50er-Jahre aufsteigenden Kenneth MacMillan. Und sie hat sehr lange
getanzt. „Ja, kleinere Sachen, wie 1997 die böse Stiefmutter
in der ‚Cinderella‘-Version von Matthew Bourne und“,
ein bisschen verschämt hinzufügend „mit 49 noch
die Tatjana in Crankos ‚Onegin‘. Im letzten Akt war
ich auch ganz gut. Aber im Schlafzimmerakt, im Negligee, da fand
ich mich doch sehr deplaziert“, lacht sie herzhaft.
Dennoch lässt sie diese „späte“ Rollenerfahrung
als Herausforderung gelten. Denn dramatische Ballette wie „Onegin“,
wie „Anastasia“ und „Mayerling“ von MacMillan
haben Lynn Seymour, die Gestalterin, immer am meisten interessiert.
In MacMillan fand sie auch den idealen künstlerischen Partner.
Gleich zu Beginn seiner Karriere wird sie seine Muse, geht mit ihm
nach Berlin, als er 1966 die Ballettleitung der Deutschen Oper für
drei Jahre übernimmt. „Ich hatte ein intuitives Gefühl
für das, was Kenneth wollte“, sagt sie. „Das war
aber bei den meisten Choreografen so, auch bei Ashton. Er kam immer
mit vielen Ideen, die wir Tänzer frei ausforschen konnten.
Beide, Ashton und MacMillan, diktierten nichts, sie bezogen uns
in den kreativen Prozess ein. Und genau das war für mich die
Essenz, mein Lebenselixier überhaupt... nicht die Performance
auf der Bühne, sondern der Weg dorthin, die Probleme, die es
dabei zu lösen gilt.“
Und der Unterschied zwischen den beiden Meistern? Seymour: „MacMillan
spürte dem Nerv seiner Zeit nach, traf sich mit den Ideen der
Nouvelle Vague, mit dem Theater eines John Osborne, eines Tom Stoppard,
eines Arnold Wesker mit seinem Spülstein-Naturalismus. Er war
überzeugt, dass das Ballett ein großartiges Medium war,
um psychologisch zu arbeiten, ein Medium auch, um die Wirklichkeit
widerzuspiegeln. Ashton, ja auch 25 Jahre älter, liebte die
Romantik. Er war ein Traditionalist – und er hatte ein großes
Gefühl für Frauen. Aber er liebte die romantisch idealisierte
Vorstellung von der Frau, so dass seine Figuren ein bisschen irreal,
ein bisschen aus der Zeit gefallen waren.“
Vollkommenes Vertrauen
Wie seine Duncan, eine Tänzerin, die zwischen Emanzipation
und Naturmystik in schwelgerischen freien Bewegungen das Leben an
sich befragt und feiert. Nicht so leicht, das in den Körper
einer Staatsballett-Tänzerin zu bekommen, die es außerhalb
der Ballettklassik eher mit den extremen Zeitgenossen Mats Ek, William
Forsythe und Saburo Teshigawara zu tun hat. Aber Seymour, die sogar
an der Pariser Oper für den damaligen Ballettchef, den in Sachen
Interpretation ultrakritischen Rudolf Nurejew, coachen durfte, ist
eine psychologisch äußerst geschickte Pädagogin:
„Ich gebe so viele verschiedene Informationen wie möglich,
durch konkretes Zeigen, aber auch durch Bilder und Metaphern, so
dass die Tänzer ihren eigenen Zugang zur Rolle finden können.
Und ich versuche, eine Atmosphäre des vollkommenen Vertrauens
zu schaffen. Dann kann ich auch mal sagen: Das überzeugt mich
nicht.“
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