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Kulturpolitik

Die Entmündigung der Hörer

Jürgen Kestings „Große Stimmen“ vom NDR abgesetzt · Von Christian Tepe

Dienstagabend 21 Uhr: Eine Gruppe von Musikstudenten findet sich wie stets zu dieser Stunde erwartungsvoll vor dem Radio zusammen, um Jürgen Kestings Sendung „Große Stimmen“ auf NDR Kultur zu verfolgen und danach bis tief in die Nacht hinein stürmisch über technische Details des Belcanto zu disputieren. Zur gleichen Zeit parkt Krankenschwester Gertrud auf dem Weg nach Hause ihren Wagen am Straßenrand, um ganz Ohr sein zu können, wenn Kesting ihren Tenorfavoriten Rolando Villazón unter seine kritische Lupe nimmt. Und auch die älteren Eheleute, für die der Weg in die Staatsoper in letzter Zeit so beschwerlich geworden ist, freuen sich, dass Deutschlands Stimmenexperte ihnen die Welt des unerschöpflichen Abenteuers Oper ins Wohnzimmer bringt. Die unübertroffene Kombination von exorbitanter Fachlichkeit, Enthusiasmus und philosophischer Weltläufigkeit hat aus Kestings Stilgeschichte des Singens Sternstunden für die Vokalmusik im Funk gemacht. Eine Sendereihe, die – mitunter auch im Widerspruch zum Urteil des Autors – das Hören schulte und für viele Menschen das Tor zum Lebenselixier Oper weit aufgestoßen hat. Eine Radiostunde mit Kultstatus – nur nicht für die Programmverantwortlichen von NDR Kultur, denn seit Mitte Februar schweigen die „Großen Stimmen“.

Faule Tricks

Ohne jede weitere Erklärung zur heimlichen Beerdigung der Reihe ließ NDR Kultur seine Hörer dienstagabends fortan vergeblich warten. Barbara Mirow, seit 2003 Leiterin des Hörfunkprogramms, steht für ein Gespräch über die Gründe für die Absetzung nicht zur Verfügung und teilt lediglich per E-Mail mit: „Darüber, dass auf dem Sendeplatz der ,Großen Stimmen‘ nach zwölf Jahren eine programmliche Abwechslung dringend Not tat, bestand auch mit dem Autor großes Einvernehmen.“ Jürgen Kesting weist diese Darstellung entschieden zurück: „Die Erklärung von Frau Mirow ist eine dreiste Lüge. Ich habe ein eindeutiges Interesse daran, diese Sendung fortzusetzen.“ Warum sollte sich der Autor auch seiner eigenen Arbeit berauben? Wo die Argumente ausgehen, versucht man es bei NDR Kultur offenkundig mit faulen Tricks. Das bekamen auch diejenigen Hörer zu spüren, die sich schriftlich bei Kesting erkundigten und keine Nachricht erhielten. Dazu berichtet Kesting: „Seit die Große-Stimmen-Reihe beendet wurde, steht bei mir das Telefon nicht still. Ich wurde gefragt, warum ich denn auf briefliche Nachfrage – an mich über den Sender persönlich adressiert – nicht geantwortet habe. Der Grund: Die Briefe wurden geöffnet und nicht weitergeleitet.“ Erst mit Hilfe eines Rechtsbeistandes konnte Kesting in den Besitz einiger der für den NDR wenig schmeichelhaften Schriftstücke gelangen.

Anti-Kultur-Kampagne

Mit der Affäre um die „Großen Stimmen“ ist sowohl in puncto der Manieren als auch was die Programmreform betrifft eine neue Eskalationsstufe bei der Vulgarisierungskampagne der Kulturwelle erreicht. Nachdem das Tagesrepertoire weitgehend auf das Niveau eines Nebenbeiprogramms unter Ausschaltung der denkenden Aktivität der Hörer abgesenkt wurde, gerät jetzt der Abend ins Visier. Mittlerweile scheint man beim NDR den intellektuellen Level der Hörer so gering einzuschätzen, dass man ihnen Kestings beherzte Expertisen nicht mehr zumuten mag. In der Nachfolgesendung „Klassik für Neugierige und Liebhaber“ werden die Musikfreunde darum ersatzweise zum Beispiel über „die beliebten Handy-Klingeltöne von Edvard Grieg“ aufgeklärt. Was Frau Mirow unter Kultur versteht, hatte sie schon zu Beginn ihrer Amtszeit in einer berüchtigten Stellungnahme definiert: „Kultur ist nicht nur Bayreuth, Salzburg, Klagenfurt, auch große Popkonzerte gehören dazu. Alltagskultur ist für mich zum Beispiel auch der neue Golf aus Wolfsburg.“

Indes formiert sich massiv öffentlicher Widerstand gegen die Tyrannei der inhaltlichen Nivellierung. Am 8. Juni veranstaltet die Initiative „Das GANZE Werk“ in Hamburg eine Podiumsdiskussion: „NDR Kultur – Wird der Kulturauftrag noch erfüllt?“ Teilnehmer sind neben Jürgen Kesting und Barbara Mirow auch Michael Plöger von der Programmdirektion Hörfunk des NDR und nmz-Herausgeber Theo Geißler. Unter den Besuchern werden viele der vom NDR versetzten Hörer der „Großen Stimmen“ erwartet. Bei alldem geht es aber nicht etwa um die Spiegelfechtereien nostalgisch gesonnener Klassik-Liebhaber, sondern um den Rang, den Kunst und Musik als unverzichtbare Formen menschlicher Selbsterkenntnis und als Kräfte gegen das gedankenlose Dahindämmern künftig im Rundfunk haben sollen. Autos können nämlich bekanntlich nicht singen.

Christian Tepe

Das GANZE Werk ist eine Initiative in Norddeutschland, die die Programmpolitik des NDR kritisch hinterfragt. Auf einer Veranstaltung der Hamburger Telemann-Gesellschaft zum Thema Programmschema und kultureller Auftrag von NDR Kultur im Juni 2004 wurde die Initiative ins Leben gerufen und hat inzwischen einen beachtlichen Kreis von Mitgliedern und Befürwortern gefunden. Sie setzt sich für „für den Erhalt kultureller Standards“ ein und verlangt „als Kompromiss, das von 6 bis 19 Uhr in einer Dauer von mindestens vier Stunden ganze Werke gesendet werden, so wie es bisher üblich war, wie es in anderen Sendegebieten geschieht und wie es viele Stammhörer schätzen.“ Die Diskussion, die seither im Internet unter www.dasganzewerk.de geführt wird, reißt nicht ab. Ein Blick auf die Webseite der Initiative lohnt sich allemal.bh

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