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Berichte

Grenzauflösung im Musentempel

Die Münchner Ballettwoche · Von Malve Gradinger

Ein bisschen Verstörung tut dem Ballettpublikum mal ganz gut. Für Beobachter der zeitgenössischen Tanz- und Theaterszene ist Michael Simons „In the Country of Last Things“ zwar eher ein gängiges – wenn nicht gar schon überholtes – Produkt der Grenzgangmachart „tanzarmes Bildertheater“. Aber beim Ballettwochen-Auftakt im Münchner Nationaltheater provozierte sein Stück zu lautstarkem Protest. Die Buhrufer wurden jedoch bald vom Applaus niedergekämpft. Ein Zeichen offensichtlich dafür, dass der Großteil des Münchner Publikums sich auf die von Staatsballettchef Ivan Liska kontinuierlich gepflegte Moderne längst eingelassen hat. Die jüngste und beste Wahrnehmungsschule für den neuen, kompakt zeitgenössischen Dreiteiler war 2004 die Übernahme von „Limb’s Theorem“ des großen Tanzerneuerers William Forsythe. Denn das Uraufführungs-Trio der Ballettwoche 2006 Davide Bombana, Jacopo Godani und der Theatermann Michael Simon (auch visuelles Gesamtkonzept) steht, mehr oder weniger, in der Forsythe-Tradition. Was bedeutet: jede Menge süffige rasante Bewegung, also sinnlichen Genuss.

 
„In the Country of Last Things“. Laure Bridel-Picq und Vincent Loermans Foto: Charles Tandy
 

„In the Country of Last Things“. Laure Bridel-Picq und Vincent Loermans Foto: Charles Tandy

 

Andererseits ist Kopfarbeit gefordert, wenn die komplexe Struktur eines abstrakten Balletts in ihrer Beziehung zur Musik gesehen werden soll. Genau hier ist Davide Bombanas „Century Rolls“ zu John Adams’ gleichnamigem Klavierkonzert einzuordnen, das dank der exzellenten Pianistin Dascha Lenek hier zur europäischen Erstaufführung kam. Adams, inspiriert von der durch die „rolls“ (Klavierwalzen) mechanisch produzierten Musik, streut Zitate aus dem vergangenen „century“ ein, von Debussy und Satie bis Gershwin, und kommt ganz nah heran an die metallisch harte Klangqualität des Pianolas. Das gibt der Komposition Pikanterie und Humor, was Bombana in die Bewegung hineinstrahlen lässt. Im Vordergrund steht jedoch die rhythmisch-dynamische Minimal-Grundstruktur, welcher der hochmusikalische Choreograf mit großartigen vielfältig geometrischen Ensemble-Formationen entspricht: vom skulpturalen Eingangstableau – die Frauen, von ihren Partnern in tiefer Schräglage gehalten (ein abgewandeltes Zitat aus Georges Balanchines „Sinfonie in C“) – bis zum wirbelnden Finale saust das in Atemkiller-Tempo über die Bühne: neun Superflitz-Paare, angeführt von Lisa-Maree Cullum und Alen Bottaini, zwei Rekordler in Bombanas eleganter Balanchine-Neoklassik, die aber schon einen viril-sportlichen Forsythe-Einschlag hat. Im Adagio-Mittelsatz darf Cyril Pierre die körperliche Plastizität von Elite-Ballerina Lucia Lacarra in kurvigen und kantigen Art-Deco-Figuren vorführen. In den hautengen Trikots, vorne lila, pink oder orange, hinten schwarz, grün oder rot (Stephen Galloway, bis 2004 Forsythe-Tänzer und Designer-Tausendsassa) leuchtet das Ballett wie ein ins Rasen geratener Klee oder Kandinsky. Für den Italiener Bombana, dem 1991 im Staatsballett der Übergang vom Ersten Solisten zum Choreografen gelang (s. unser Interview S. 13), ein schöner Erfolg.

Ähnlich die Karriere von Landsmann Jacopo Godani, Tänzer und mehrmals Co- Choreograf in Forsythes ehemaligem Frankfurt Ballett. In seinem „EleMental“ gestaltet er die von Forsythe geforderte Befreiung des Tänzers aus dem tradierten Klassik-Korsett: Nicht mehr nur ausführendes Instrument, sondern selbst kreativ zu sein, diese Maxime klingt in einem in die elektronische Klangkulisse der Münchner Gruppe 48nord von Siegfried Rössert und Ulrich Müller eingewebten Text (von Godani und Kate Strong) an. Und gelegentlich zeichenhaft, wenn Tänzer durch ihre Gesten und Schritte flirrende Lichtfelder und -balken in raumgreifende Bewegung setzen und als letzten Befreiungsakt die Rückwand einreißen. Ein biss-chen wirkt das ideologisch überfrachtet, aber insgesamt ist es doch eine von dem Allrounder Godani (auch Kostüme, Licht und Video-Ideen) dramaturgisch durchdachte, die Videotechnik ausgetüftelt nutzende Arbeit, durchgehend in dem von ihm zu eigener Handschrift verflüssigten Forsythe-Stil.

Das Wagnis und für die Buhrufer eben fehl am Platze im traditionswahrenden Musentempel: „In the Country of Last Things“ (Paul Austers Roman lieferte den Titel) von dem choreografierenden Bühnenbildner-Regisseur Michael Simon. Aber, ob uns das passt oder nicht, Grenzauflösungen gibt es allenthalben. Man geht ja auch heute mit Jeans und Rolli ins Theater. Die Inbesitznahme geheiligter Kulturhallen durch zeitgenössische Arbeiten und Experimente wird nicht aufzuhalten sein. Das ist auch in Ordnung. Nur gut müssen sie eben sein. Und handwerklich gut gemacht ist dieses Stück, in dem man auch sofort die Handschrift des häufigen Forsythe-Mitarbeiters (er entwarf unter anderem die beweglichen Objekte in dessen „Limb’s Theorem“) erkennt: rauf- und runterfahrende Hänger für diverse, die Szene jeweils verdoppelnde Videos, ein einsehbares und später kippendes Motelzimmer, ein Auto, mit dem im Cut-Cut-Filmdrehverfahren immer wieder ein Unfall gestellt wird.

Simons Thema: die tödliche Wiederholbarkeit in der menschlichen Existenz, festgemacht an zwei Paaren in der Routine von kaputten Ehen. Daraus wird mit vier zu gestischem Minimalismus einsatzbereiten Tänzern ein surrealer Comicstrip zwischen Punk und Lack, der sich durch Heiner Goebbels’ farbige filmische Komposition „Surrogate Cities“ immerhin zu einer pantomimischen Pop-Art-Oper verdichtet. Ein bei den Werken von Goebbels und Adams interessiert musizierendes Staatsorchester unter Myron Romanul, Tänzer, die die jeweiligen Handschriften blendend beherrschen, die Erfahrung auch, dass ein Bombana und ein Godani aus eigener Kraft ihren Weg gemacht haben, das sollte doch, auch bei kleinem Abstrich, zu einem Besuch verlocken.

Malve Gradinger

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