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Sie müssen kürzer denken!
Ein Symposium zur Zukunft der Musiktheaterkritik · Von
Christian Tepe
Etwas verloren wirkten die Tagungsteilnehmer im weiten Foyer des
Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier. Und das lag nicht allein
an der kleinen Zuhörerschar, die sich für die Musiktheaterkritik
von morgen interessierte. Ihre Funktion als gloriose Repräsentationsform
der bürgerlichen Öffentlichkeit hat die Oper schon lange
verloren. Nun muss sie in einem Klima kulturpolitischer Borniertheit
mit Kino, neuen Medien und all den Agenturen der Freizeitindustrie
um die Gunst des Publikums kämpfen. „Wie geht man als
Kritiker damit um, zu wissen, dass das, worüber man schreibt,
gesamtgesellschaftlich als ziemlich unwichtig gilt?“, umschrieb
Detlef Brandenburg die Verlegenheit des Musikjournalisten. Verblüht
sei der Zauber „der Starkritiker älteren Schlags, fixiert
auf Größt-Ereignisse, historische Zelebritäten und
ultimative Interpretationen“ diagnostizierte Gerhard R. Koch,
und so richtig bedauern mochte das niemand der acht prominenten
Autoren, die auf Einladung von Prof. Franz R. Stuke, Herausgeber
des Magazins „opernnetz.de“, über die Zukunft ihres
Metiers debattierten.
Doch mag auch der gesellschaftliche Ausstellungswert der Oper und
ihrer publizierenden Trabanten verblasst sein, so schmälert
dies doch keineswegs die soziale Dimension des Musiktheaters als
Reflektionshorizont für das Ganze der Gesellschaft. Daran sollten
sich die Werke und Aufführungen und die Kritik selbst weiterhin
messen lassen, forderte Brandenburg: „Ich möchte den
Lesern gern den Eindruck vermitteln, dass in der Oper Themen verhandelt
werden, die für ihre gesellschaftliche Existenz und ihre persönliche
Lebensgestaltung wichtig sind.“ Paradoxerweise ist im Gegensatz
zum medialen Statusverlust des Musiktheaters sogar zu beobachten,
wie die Vielfalt des Repertoires anwächst und die Ausdifferenzierung
der ästhetischen Präferenzen des Publikums immer weiter
voranschreitet. Darauf habe Musikkritik zu reagieren, indem sie
zwischen den Fraktionen vermittle und den selbständig denkenden
Leser voraussetze: „Die ehrlichste Haltung des Kritikers scheint
mir deshalb heute die zu sein, den Leser sozusagen als Komplizen
meines Verstehensprozesses zu gewinnen“, lautete Brandenburgs
Fazit.
Häppchenkritik
Nur bedarf die Entfaltung des diskursiven Gedankens auch eines
angemessenen Raumes. Hier aber beginnt die bittere Realität,
wenn es etwa heißt: „Herr Reininghaus, Sie müssen
kürzer denken!“ – so die bezeichnende Arbeitsanweisung
einer Kulturchefin des Rundfunks für den Kritiker. Über
die Strangulierung der Kulturberichterstattung klagten fast alle
Diskussionsteilnehmer. „Eine Premiere der ‚Götterdämmerung’
auf häppchenkonforme, weil im heutigen Sinne rundfunktaugliche
‚eine Minute 50 Sekunden’ zu verknappen, ist in der
Praxis keine Seltenheit, in der Theorie hingegen ein Frevel wider
das eigene Kritiker-Gewissen“, verdeutlichte Christoph Vratz.
Dagegen warb Stefan Keim dafür, in der Krise auch eine Chance
zu sehen: „Dass wir unseren Platz in den Feuilletons und der
Öffentlichkeit nicht mehr gesichert haben, dass wir um ihn
kämpfen müssen, ist für den Musikjournalismus gut.
Es zwingt uns zur Bewegung.“ Zur Zielrichtung dieser Bewegung
sinnierte Keim: „Wir sind in der gleichen Situation wie die
Theaterleute, wir müssen erkennen, wie unser Publikum tickt
und um es werben. Wir machen Entertainment. Wie Wagner, Händel
und Roland Moser.“ Das klingt fast schon wie eine Ergebenheitsadresse
an die Propagandisten einer schmerzfreien Lightkultur, auch wenn
Keim differenzierend einschränkte: „Wir müssen uns
einer neuen Zeit stellen und möglichst viel vom inhaltlichen
Erbe bewahren, eine Musikkritik entwickeln, die kompetent und unterhaltend
ist.“ Wer aber bestimmt den Geist der neuen Zeit?
Musik bleibt Nebensache
Weniger einem unterhaltungsbedürftigen Rezipienten als dem
Komponisten sah Christoph Vratz den Kritiker verpflichtet –
erst recht „in Zeiten, in denen Regisseure offen zugeben,
dass sie von der Oper wenig, von Noten gar keine Ahnung haben, und
sie die Genres (etwa vom Film zur Oper) wechseln wie Fußballer
ihre Vereine.“ Ähnlich plädierte Pedro Obiera für
ein „Zurück zur Musik, um daran zu erinnern, dass die
Musik im Musiktheater einen immer geringeren Anteil innerhalb der
aktuellen Berichterstattung einnimmt.“
Ein Stück weitergedacht kann man daraus auch ableiten: Manche
Kritiker haben ihre Leser einfach schlecht erzogen, indem sie die
Musik jahrzehntelang marginalisiert und die Dialektik von Musik
und Theater unkenntlich gemacht haben. Inzwischen hat die Öffentlichkeit
„gelernt“, dass der Oper keine Ausnahmestellung unter
den Künsten gebührt. Worauf sollte sich dann aber noch
ihre besondere publizistische Relevanz gründen?
Christian Tepe
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