Ich bin’s, der Mensch
Younghi Pagh-Paan spricht über ihre erste Oper ·
Von Marco Frei
Einen rätselhaften Titel trägt die erste Oper der in
Bremen lehrenden Koreanerin Younghi Pagh-Paan – „Mondschatten“.
Unter der Regie von Ingrid von Wantoch Rekowski wird sie am 21.
Juli beim World New Music Festival in Stuttgart uraufgeführt.
Grundsätzlich basiert das Libretto der Stuttgarter Chefdramaturgin
Juliane Votteler auf Sophokles’ „Ödipus auf Kolonos“.
Während der Zusammenarbeit zwischen Komponistin und Librettistin
zeigte sich jedoch die Notwendigkeit einer Öffnung für
fernöstliche Geisteshaltungen, weshalb Texte des koreanischen
Philosophen Byung-Chul Han sowie zen-buddhistische Haikus einbezogen
wurden: Fernost und West vereinen sich. Musikalisch äußert
sich dies schon im Sextett „Wundgeträumt“ nach
Worten von Han, das im vergangenen Jahr uraufgeführt wurde
und dessen Quint-essenz in das Auftragswerk des Staatstheaters Stuttgart
einfloss: Europäische Instrumente und fernöstliche Klangbehandlung
schaffen eine neue Hörerfahrung. Doch worum geht es in dem
Kammermusiktheater, das die Protagonisten Ödipus, Antigone,
Polyneikes, Theseus und Kreon mit jeweils eigenen Intervallkonstellationen
charakterisiert?
Marco Frei: In „Wundgeträumt“
heißt es: „Wundgewandert, wundgeweint, wundgeträumt,
wundenübersät ist deine Seele. Atme durch deine Wunden!
Lass deine Wunden blühen!“ Auch Sie sind eine Wundgewanderte,
zumindest aber eine Weltenwanderin. Haben Sie eine Heimat gefunden?
Younghi Pagh-Paan: Während des Koreakrieges
mussten wir zu Fuß fliehen, einer meiner Brüder endete
als Kanonenfutter in Nordkorea. Jede menschliche Seele erleidet
in ihrem Leben so viele Wunden. Wir leben nicht zuletzt deshalb,
um diese Wunden wie ein aufgerissenes Erdreich mit neuer Saat fruchtbar
zu machen. Sie gehören uns selber und niemandem sonst. Eigentlich
kann man nie eine Heimat finden – nicht nur ich, die als Koreanerin
in der Fremde lebt. Die Sehnsucht nach Heimat und Heim führt
in den Tod: Er ist das eigentliche Heim. Darum geht es auch in Sophokles’
„Ödipus auf Kolonos“.
Frei: In Sophokles’ Drama findet Ödipus
nach seinen Irrfahrten im Hain der Rachegöttinnen inneren Frieden
und wird zu den Göttern abberufen. Wie sind Sie auf den Stoff
gekommen?
Pagh-Paan: Ende der 90er-Jahre kam Intendant Klaus
Zehelein auf die Idee, Monologe aus „Ödipus auf Kolonos“
als Ausgangspunkt für ein Musiktheater zu nehmen und fragte
mich als nichteuropäische Komponistin.
Frei: Warum haben Sie damals zugesagt?
Pagh-Paan: Ödipus kam in der Fremde an, wo
er sterben wollte. Auch ich bin in der Fremde. Gleichzeitig schrieb
Sophokles das Werk, als er als Neunzigjähriger von seinem eigenen
Sohn vor Gericht für unzurechnungsfähig erklärt wurde.
Als Gegenbeweis rezitierte Sophokles seinen späten Ödipus
auswendig und rettete sich durch seine Kunst. Außerdem faszinierte
mich, dass sowohl Ödipus als auch Sophokles Familienbindungen
schließlich verneinen – sogar ihre eigenen Söhne.
Frei: Warum die ergänzenden Texte von Han?
Pagh-Paan: In der sechsten Opernszene singt der
Chor: „Nicht geboren zu sein: Höheres denkt kein Geist!
Doch wenn schon geboren, kehr wieder zurück, woher du kommst.“
In diesem Grabgesang von Sophokles sehe ich ein deutliches Bindeglied
zum Taoismus, was die Einbeziehung der Texte von Han rechtfertigt.
So holte ich meine eigene schöpferische Position zurück.
Ohne diesen taoistischen Keim hätte ich das Projekt nie begonnen.
Frei: Die Texte von Han werden von Ödipus’
Tochter Antigone gestaltet, die in Sophokles’ Drama nicht
direkt erscheint.
Pagh-Paan: Wenn Antigone die Texte von Han singt,
bekommt sie eine läuternde Rolle…
Frei: Und ist letztlich „moto spirituale“,
wie es der Komparatist George Steiner, den Sie in Ihrem Kommentar
zu „Wundgeträumt“ zitieren, formulieren würde.
Pagh-Paan: Die spirituelle Bewegung ist die Frage,
wie ein Mensch in den Tod geht. Und da ist Ödipus’ verneinendes
Schweigen seinem Schicksal gegenüber: Endlich ist er ein Mensch,
handelt so und fügt sich nicht einfach. „Ich bin’s,
der Mensch“, singt er in seiner ersten Szene. In der griechischen
Mythologie sagt Antigone als Erste ein entschiedenes Nein, bestattet
ihren Bruder Polyneikes trotz des Verbots von König Kreon würdig
und wird dafür lebendig begraben.
Frei: „Des Menschen Leben gleicht dem Mondschatten,
der im Tautropf berührt des Wasservogels Schnabel“ –
so endet die Oper. Warum der Titel „Mond-schatten“?
Pagh-Paan: Das ist die Kürze menschlichen
Lebens mit seinem Drama. Ein Rätsel, das jeder für sich
selbst und nur für sich selbst lösen muss. Ich wollte
einen offenen Titel.
Marco Frei
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