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Bewegender Seelenstriptease
„Vanessa“ in Altenburg · Von Tatjana Böhme-Mehner
Eisige Kälte und emotionale Schwüle, der längst
aus den Fugen geratene Seelenraum, aus dem nur selten ein Ausweg
aufleuchtet: Hier hat man die Zeit angehalten, um warten zu können,
um seinem Traum, seinem Ideal zu huldigen, mit dem Erkennen der
Differenz von Idee und Wirklichkeit zu ringen. Und dann? Zu erkennen,
zu verdrängen und zu fliehen! Die Kälte, von der hier
gesungen wird, dominiert auch das Bild, jene Ausweglosigkeit der
Wiederholung des Schicksals, des immer wieder Enttäuschtwerdens
im Leben bestätigend. Das ist Rahmen und Raum für die
Oper „Vanessa“ von Samuel Barber zu einem Text von Gian
Carlo Menotti, die in Altenburg eine großartige Premiere erlebte;
mehr als die Ausgrabung eines in Vergessenheit geratenen Werkes
– eine wirkliche Entdeckung und ein in seiner Existentialität
tief bewegendes Musiktheatererlebnis!
Die auf unterschiedlichen Ebenen mehrere Geschichten erzählende
Handlung um Vanessa, die Frau, die eine unbestimmte Zeit auf den
Geliebten wartet, dann Hals über Kopf zugreift und damit der
nächsten Verwandten die Chance auf Zukunft und Erfüllung
raubt, ist ein idealer Stoff für den Regisseur und designierten
Intendanten des Theaters Matthias Oldag und das bewährte Ausstatterteam
Thomas Gruber und Andrea Kannapee. Sie komponieren eine beziehungsvolle
Geschichte über Schweigen, Verschweigen, Reden und Gerede.
Eine zusätzliche Deutungsebene wird hier vor allem im Kostüm
installiert. Nichts ist da zufällig: Anatol, der junge Fremde
– eigentlich (nur) Projektionsfläche der beiden Frauen
– hoffnungsvoll schneit er im leichten Sommeranzug herein,
um das Haus schließlich schwarz gewandet im Reisemantel zu
verlassen. Kurz ist der aufgesetzte Frühling der Vanessa, parallel
und gleichzeitig Persiflage zur anfänglichen Frische der jungen
Erika, die ihre Jugend verliert. Der musiktheatralische Seelenstriptease
ist von der ersten bis zur letzten Minute sehens- und hörenswert,
zieht in seinen Bann und schafft tief bewegende Momente.
Dass diese Oper eher wenig bekannt und gespielt ist, dürfte
kaum in ihrer Form, Struktur und Wirkung begründet sein. Die
Partitur dieser echten Oper überrascht immer wieder und bietet
dem Chefdirigenten Eric Solén für sein Debüt im
Orchestergraben alles, was er braucht, um zu zeigen, wie leistungsfähig
und motiviert das Phiharmonische Orchester des Theaters gegenwärtig
ist. Eine Überraschung im positivsten Sinne ist das musikalische
Niveau des Abends, sind die klangliche Ausgewogenheit und dramatische
Spannung, die dem Hörer entgegenschlagen, die Sinnlichkeit
und der Umgang mit den gebrochenen Tanzstrukturen, die einem eisige
Schauer über den Rücken laufen lassen, den langen Orchestervor-
und -zwischenspielen. Auch der Opernchor in der Einstudierung von
Bernhard Ott erweist sich als außerordentlich stimmig.
Aber schließlich ist es vor allem die ideale szenische und
musikalische Umsetzung dieses innerlich hochdramatischen Kammerspiels
durch ein ausgewogenes Solistenensemble, das diesen Opernabend zu
einem Ereignis macht. Anspruchsvoll sind die Partien durchaus, aber
die gestalterischen Chancen, die sie den Sängern bieten, sind
absolut nicht zu unterschätzen und machen den besonderen Reiz
dieses Stückes aus. Die Überraschung des Abends und in
jeder Hinsicht großartig mit Schönklang und Durchschlagkraft
ist Franziska Rauch als Erika. Hier bleiben keine Wünsche offen.
Sabine Paßow, die die Titelpartie übernommen hat, zählt
zu jenen Sängerinnen, bei denen man sich nach angesagter Indisposition
fragt, wie das dann erst ohne Grippe klingen mag, denn sie überzeugt
voll und ganz. In diese Dreieckskonstellation fügt sich Mathias
Schulz als Anatol trefflich ein. Mit Teruhiko Komori als Doktor
schafft Oldag eine kommentierende dämonische Figur, deren Geschichte
einen spezifischen Rahmen bildet. Und auch hier wird die musikalische
Sternstunde komplettiert. Ilona Streitberger als Großmutter
ist nicht nur stimmlich die hierfür notwendige faszinierend-rätselhafte,
stolze Erscheinung. Schließlich macht die ungewöhnlich
hohe Textverständlichkeit aller das Ganze zu einem vollkommenen
Theatererlebnis.
Die Konstellation dieses Abends weckt Hoffnungen auf weitere spannende
Opernentdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts und damit auf mehr
als ein bloßes Anknüpfen an eine Tradition dieses Theaters,
vielleicht sogar auf eine Ära des Musiktheaters, die für
Altenburg und Gera gerade beginnt.
Tatjana Böhme-Mehner
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