Zwischen Wahn und Realität
Christian Spucks Ballett „Der Sandmann“ in Stuttgart
· Von Vesna Mlakar
Die künstlerische Auseinandersetzung mit der „Subjektivität
der Wahrnehmung“ ist ein Thema, das Christian Spuck offenbar
fasziniert. In seinen Tanzstücken hat er sich hiermit immer
wieder beschäftigt. Da lag es nahe, dass er irgendwann auch
ein Sujet aus dem literarischen Umfeld der deutschen Romantik aufgreifen
würde. Seiner jüngsten Arbeit liegt die Fantasie-Novelle
„Der Sandmann“ (1816) von E.T.A. Hoffmann zugrunde:
Traumatisiert durch den Unfalltod des Vaters und das grausige Ammenmärchen
vom Sandmann, der kleinen Kindern, die nicht einschlafen wollen,
die Augen „blutig zum Kopf herausspringen lässt“,
verstrickt sich Nathanael (athletisch-lyrisch interpretiert vom
jungen Alexander Zaitsev) immer stärker in die Netze dämonischer
Wahnvorstellungen und realitätsverzerrender Illusionen.
Die Erwartungen waren hochgeschraubt, als sich der nüchtern
schwarze Vorhang zum Prolog des Abends öffnete. Wie auf einem
Gemälde präsentierte der 36-jährige Choreograf, der
im Februar 2006 mit dem Deutschen Tanzpreis „Zukunft“
ausgezeichnet wurde, die Protagonisten seines neuen Zweiteilers.
In die düstere Atmosphäre eines gutbürgerlichen Salons
getaucht, stehen – brav aufgereiht und dem Publikum zugewandt
– Nathanaels Eltern mit den adrett herausgeputzten Zwillingsschwestern,
seine Verlobte Clara (bezaubernd, mit der geforderten tragischen
Leichtigkeit: Katja Wünsche) und seine Freunde Lothar und Siegmund
auf der schrägen Bühnenebene. Davor wippt ein Kind auf
einem Holzpferdchen. Martin Donners eigens für den „Sandmann“
komponierter Elektrosound legt sich über dieses Tableau vivant.
Und langsam – nach einem ersten kollektiven Armschwung –
kommt Bewegung in das steife Figurenarsenal.
Vier Musiker nehmen auf der Bühne Platz und jugendliche Paare
in grauen, braunen und dunkelgrünen Gewändern und schwarzen
Halbschuhen (Kostüme: Emma Ryott) beginnen einen in parallele
Linien gezwungenen Reigen, der in seiner Expressivität an das
Tanzvokabular von Mats Ek erinnert. Mit einem simplen, aber wirksamen
Theatertrick versetzt Spucks Bühnenbildner Dirk Becker die
Zuschauer in Nathanaels Kindheit: Durch einen tapetenwandähnlichen
Hänger lässt er einen Teil der Bühne zeitweise zum
Wohnbereich der Familie werden. Hier wird das vermeintlich traute
Zusammenleben exerziert, bis ein Fremder – der Advokat Coppelius
(Nikolay Godunov) – eindringt, um mit dem Vater zu verschwinden.
Der neugierige Knabe wird Zeuge und Opfer einer erschütternden
Begebenheit, die im Tod des Vaters gipfelt. Gezielte Lichtregie
und konsequenter Musikeinsatz verdeutlichen die unterschiedlichen
psychologischen Sphären: Aus den Lautsprechern tönen Klangcollagen
zur Charakterisierung von Nathanaels diabolischer Seelenpein, auf
der Bühne erklingen – live gespielt – romantische
Klavier- und Kammermusikwerke Robert Schumanns, und aus dem Orchestergraben
sind bedrohlich anmutende Kompositionen Alfred Schnittkes zu vernehmen.
Schwarzgewandete Menschengruppen bedrängen Nathanael, der
angstvoll zwischen ihnen hin- und herläuft. Doch wie üble
Gedanken, die sich nicht einfach verscheuchen lassen, überrennt
und bedrängt ihn die Masse. Diese Sequenz ist einer der Höhepunkte
in Spucks recht vorlagengetreuer Nacherzählung des „Sandmann“.
Es ist aber auch ein Moment der Entscheidung des Choreografen gegen
eine tiefere Herausarbeitung der bei E.T.A. Hoffmann so schaurigen
Viel- und Doppeldeutigkeit. Nathanaels in der Kindheit verankerte
Psychose, die den Feingeist mehr und mehr in den Wahnsinn treibt,
bleibt alleiniger Mittelpunkt. Leider wird dieser Prozess tänzerisch
nicht wirklich veranschaulicht. Spuck begnügt sich mit melancholischen
Posen und einer gesteigerten Aggressivität Nathanaels seiner
Braut gegenüber.
Nach der Pause spitzt sich der Konflikt zu: Nathanael wählt
inmitten einer auf Spitze tanzenden Ballgesellschaft die von Professor
Spalanzani (Damiano Pettenella) vorgeführte Puppe Olimpia zur
Partnerin – und entflammt verblendet in Liebe zu ihr. Virtuos
automatenhaft meistert Maria Eichwald diese nuancenreiche Einlage:
technisch und stilistisch brillant zwischen eleganter Ballerina
und in sich zusammensackender Maschine wechselnd. Erst als die Hauptfigur
entdeckt, wie Coppola (Jason Reilly) und Spalanzani sich um die
Augen der leblosen Puppe streiten, wird er sich der Täuschung
bewusst. Ein Zeitsprung führt zurück zur ersten Szene,
wobei Nathanael nun stumpf dahinstarrend am Boden sitzt. Clara muss
letztlich in einem beängstigenden Pas de deux erkennen, dass
er verloren ist. Abrupt bricht das Stück an dieser Stelle ab.
Ein kitschiges Familienbild kann sich Spuck zum Schluss dennoch
nicht verkneifen: Clara in den Armen Siegmunds mit ihrem kleinen
Jungen auf dem Schaukelpferd.
Trotz einer gewissen Monotonie der Handlung, die ein derartiger
Stoff nun einmal mit sich bringt, und sich häufig wiederholenden
Bewegungsabläufen stellt Christian Spucks „Sandmann“
eine echte Repertoirebereicherung des zeitgenössischen Balletttheaters
dar. Dafür bürgen schon die schlüssige Dramaturgie
und tänzerische Qualität des Stücks.
Vesna Mlakar
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