Aus aktuellem Anlass
„Waiting for the Barbarians“ in Erfurt uraufgeführt
· Von Frieder Reininghaus
Immer wieder versucht das Musiktheater, nicht nur im weitesten
Sinn „aktuell“ zu sein, sondern möglichst zeitnah
die Höhen beziehungsweise Tiefen der politischen Gegenwart
zu erreichen. Exemplarisch gelang dies Peter Sellars und John Adams
1987 mit „Nixon in China“ – die ironisch kommentierende
politische Groteske erwies sich als ziemliche Sensation und setzte
einen Meilenstein in der Musiktheatergeschichte. Insbesondere für
den großen Adams-Rivalen Philip Glass bedeutete der Sprung
des auf Minimal music gestützten Theaters aus der Welt altägyptischer
Mythen oder legendärer Geistesgrößen in die Arena
der Zeitgeschichte eine große Herausforderung.
Das neue Erfurter Theater wurde vor zwei Jahren mit einer neuen
Oper eingeweiht („Luther“ von Peter Aderhold), und auch
weiterhin will das strategisch günstig gelegene Haus mit neuen
Werken punkten. Zum Saisonauftakt konnte es sogar prunken: Mit der
Uraufführung einer Auftragsarbeit, die der prominenteste unter
den lebenden amerikanischen Komponisten ausführte: „Waiting
for the Barbarians“. Das von Christopher Hampton eingerichtete
Libretto basiert auf einem Roman des 1940 in Kapstadt geborenen
Schriftstellers und Übersetzers John Marie Coetzee, der sich
1980 mit den Problemen eines Landes wie Südafrika befasste:
Damals suspendierte es wesentliche demokratische Regularien angesichts
befürchteter Angriffe durch Nachbarvölker, deren Lebensräume
in der Vergangenheit brutal eingeengt und deren Angehörige
diskriminiert, misshandelt und getötet wurden.
Wahrscheinlich geht man auch nicht ganz falsch in der Annahme,
dass Glass jetzt weniger die politische Situation des tiefen Südens
vor einem Viertel Jahrhundert im Visier hatte, sondern eher das
Verhältnis des Staates Israel zu den Palästinensern und
insbesondere eine für bedenklich erachtete Entwicklung in seinem
Heimatland, den USA. Philip Glass schrieb eine Anti-Folter-Oper.
Man kommt kaum umhin, sie vor dem Hintergrund der Gefängnis-
und Lagervollzugsmethoden der Vereinigten Staaten zu sehen und zu
hören – als Zeichen des guten Willens für den kritisch-wachen
Geist eines „anderen Amerika“.
„Waiting for the Barbarians“ – das ist der wahrscheinlich
nicht sonderlich fiktive Bericht von dem Leben eines Mannes, der
als Präfekt in einem nicht näher genannten Land zwar einerseits
der (weißen) Oberschicht und deren Repressionssystem angehört,
anderseits ein Herz für die einfachen Leute aller Couleur hat.
Er ist ein ganzer Kerl und lässt sich junge Frauen zuführen.
Doch mit dem Aufmarsch der eigenen Armee in der Grenzstadt, in der
er seines Amtes waltet, fangen seine Probleme an – jenseits
der Grenze sollen „die Barbaren“ sich zusammengerottet
und Angriffe vorbereitet haben. Die Militärs wollen sie in
die Berge zurückbomben und fangen in den Tälern schon
einmal mit Säuberungen an, verhaften, foltern und morden. Der
moralisch kerngute Präfekt gerät zwischen die Fronten,
wird vom eigenen System verfolgt, erniedrigt, gedemütigt, angespuckt
und auch nach dem fehlgeschlagenen Militärschlag gegen die
„Barbaren“ nicht rehabilitiert. Richard Salter, einer
der erfahrensten Sänger-Darsteller des neuen Musiktheaters,
verschafft dem Repräsentanten des richtigen Lebensentwurfs
in einer falschen Welt mit seiner starken Stimme und gestischen
Noblesse in Erfurt Profil und Format.
Die neue Oper von Philip Glass erscheint politisch vollständig
korrekt. So klipp und klar sie das Unrecht anprangert und Mitleid
mit den Verfolgten und Geschundenen beweist, so klar und eindeutig
setzt der Regie führende Intendant Guy Montafon das Evangelium
der guten Gesinnung um: Schon zu beginn hängen zusammengeschnürte
Leichen über der von George Tsypin entworfenen Wüstenlandschaft,
die sich durch das Auf und Ab von mehreren Vorhang-Zügen entwickelt
und mit einer wüsten Stadtlandschaft alterniert. Das Foltern
mit Schlägen und Tritten, Baseballschlägern und schweren
Hämmern wird anschaulich vor Augen geführt; von der Anwendung
der heißen Gabeln sogar in den Augen wird zum Glück nur
gesprächsweise berichtet.
Fortdauernd schweben und baumeln die Mumien als Mahnmahle für
staatlichen Terror. In der Tiefe leisten der Chor und das Philharmonische
Orchester höchst präzise Arbeit beim Etablieren der fein
strukturierten Klangflächen, nehmen sich im Dienst des motorisch
disziplinierten Ausdrucks zurück und heben die hymnischen Melodielinien
strahlend empor. Der von Dennis Russell Davies mit hohem Perfektionsgrad
geleitete Premierenabend lehrte, dass es unterhalb der demokratischen
Mäntel der auf die westlichen Werte verpflichteten Staaten
die Lizenzen zum Foltern gibt. Die zum Nerven mit Minimal music
ohnedies. Die Erfurter aber waren ganz aus dem Häuschen, dass
von einem der nobelsten Häuser ihrer Stadt nun dieses Signal
ausgeht.
Frieder Reininghaus
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