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„Wenn der Ankleider droht“
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„Wenn der Ankleider droht“

Deutschlands Theater im Würgegriff der Gewerkschaften
von Reinhard Wengierek (Die Welt, 18.12.02)

Man stelle sich vor: Eben ist der liebestolle Sohn dabei, seiner Angebeteten einen Schmachtbrief zu schreiben. Da platzt Mama dazwischen: „Aufhören, Junge. Abendbrot!“ – Die Herstellung von Kunst läuft ähnlich intensiv wie die Verfertigung solch leidenschaftlicher Botschaften. In Theatern muss dafür fleißig geprobt werden. Das Besondere dabei: Solcherart Kunstproduktion samt Proben geschieht kollektiv. Damit beides jenseits hässlicher finanzieller Zwänge in nötiger Sorgfalt geschehen kann, stehen hierzulande die meisten Theater unter arbeitsrechtlicher und finanzieller Obhut der öffentlichen Hand.

Prima für die Kunst, aber kostspielig für die – so der Beamten-Slang – staatlich-kommunalen Dienstleistungsbetriebe Theater, die künstlerisches und technisches Personal als Arbeitnehmer beschäftigen. Deren Vertretungen – etwa die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die Deutsche Orchestervereinigung (DOV), die Vereinigung deutscher Opernchöre und Bühnentänzer (VdO), die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) – ertüftelten in den vergangenen Jahrzehnten, als Äquivalent für alle Belastungen beim störungsfreien Kunstschaffen, ein immer teurer werdendes arbeits- und tarifrechtliches Regelwerk. Ein aberwitziges System von Arbeits-, Pausen-, Ruhezeiten und Sonderzuschlägen beherrscht alles Tun derart, dass Kunst zur Nebensache wird. Was generös gedacht war, wurde zum Hemmnis. Immerfort tritt eine Mama auf, hält einen Paragrafen hoch und schreit: „Aufhören!“

Beispiel: Bei Ankleidern dürfen keine „geteilten Dienste“ angesetzt werden. Das heißt, die Leute, die den Künstlern beim Kostümieren helfen, dürfen nicht vormittags vier Stunden zur Probe und abends vier Stunden zur Vorstellung antreten, sondern nur acht Stunden am Stück. Entsprechend hoch (und kostenaufwändig) muss die Zahl der beschäftigten Ankleider sein. Ansonsten schmeißt einer, der stur auf sein Recht pocht, nach vier Stunden Probendienst die Klamotten hin, und Schluss ist mit Kunst.

Es sei denn, der Regisseur hat sich langfristig vor der Probe eine Verlängerung vom Personal- und Betriebsrat genehmigen lassen. Bestätigte doch kürzlich das Bundesverwaltungsgericht Leipzig ein solches Mitbestimmungsrecht, das der Personal- und Betriebsrat der Bühnen der Stadt Köln einklagte.1)

Dieses Urteil, so der Deutsche Bühnenverein, verstoße gegen die gesetzlich garantierte Freiheit der Kunst. „Es geht den Personalrat nichts an, wie viele Stunden Hamlet seinen Monolog probt“, wettert Rolf Bolwin, Chef des Bühnenvereins. Und legte im Namen seines Vereins beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein.

Das klingt nach Justizposse, ist aber nichts weiter als eine schon verzweifelte Wehr gegen noch weiter gehende Bürokratisierung. Da werden, obgleich die Zahlungsfähigkeit der meisten öffentlichen Hände mittlerweile fast gegen Null geht, Tariferhöhungen gnadenlos durchgeboxt. Da schauen Arbeitnehmervertretungen gelassen zu, wie auf Niedrigst-Etat gefahrene Theater, nur um dem Zwang des Flächentarifvertrags zu entsprechen, in ihrer Ausweglosigkeit ganze Sparten und Inszenierungsvorhaben abwickeln. Damit Geld frei wird für die erkämpften Einkommenserhöhungen.

Und wer sich – durch Strukturreformen – frei machen will von Klientelpolitik, vom kunstfeindlichen Hineinregieren in den Theaterbetrieb im Namen der sozialen Gerechtigkeit, der wird verteufelt. Die pekuniäre Misere wird zwar eingestanden; auch die Notwendigkeit einer Umgestaltung des Theatersystems (mehr Freiheit und Autonomie für Intendanten, Lösung der Theater aus Kameralistik, öffentlichem Dienst, Tarifkartell). Doch fängt einer, wie Intendant Märki in Weimar, tatsächlich endlich an, seinen Laden umzukrempeln, mauert prompt die Arbeitnehmer-Lobby. Und ruft vor einer ausverkauften Vorstellung von Mozarts „Entführung“ fix mal einen Warnstreik aus. Also schob Märki selbst Kulissen und rettete, zusammen mit seinem ständigen Streikbrecher-Trupp, die Aufführung. Draußen am Goethe-Schiller-Denkmal hockte das Häuflein ver.di-Aktivisten in ihren roten ver.di-Westen und wurde vom Publikum beschimpft. So ehrenwert und der Kunstfreiheit dienlich einst (bei vollen Kassen) die Überstellung der Theater quasi in Betriebe des Staates war, so sehr strangulieren sich heute diese Betriebe durch unbezahlbare soziale Errungenschaften. Und Überbürokratisierung ihrer gesamten Arbeit. Ein Gutgemeintes degenerierte zum Schlechten.

Ein Beispiel aus prominent abgehobener Sphäre: Bis 2006 sollen die Subventionen für die Berliner Opernhäuser von gegenwärtig 115 Millionen Euro um 40 Millionen gekürzt werden. Das entspricht etwa dem bisherigen Zuschuss des Pleite-Lands Berlin für seine Staats- oder Deutsche Oper. Dennoch haben die Intendanten der drei Häuser just jegliche Kooperation hinsichtlich kostensenkender Strukturreformen hochmütig abgelehnt. Rettende Kooperationen, gar Fusionen „nähmen den Mitarbeitern jegliche ökonomische Motivation“. Auf Besitzstandswahrung um jeden Preis pochen also nicht nur Funktionäre von ver.di, DOV, VdO, GDBA, sondern auch Superstars der Szene. Zustände wie in Absurdistan: Theaterleute sägen unentwegt am Ast, auf dem sie sitzen.

Wenn sie Pech haben, hilft ihnen dabei noch unser höchstes Gericht: Soll doch in Karlsruhe entschieden werden, ob noch mehr außerkünstlerischer Einfluss aus dem notorisch kunstfeindlichen Reich der Mitbestimmung eine Theaterproduktion schon im Probenstadium derart belasten darf, dass die Premiere womöglich ausfällt.

1) „Oper & Tanz“ hat in Ausgabe 6/02, S. 30 ausführlich über den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. August 2002 (AZ.: BVerwG 6 P 17.01) berichtet.

Siehe auch Stefan Meuschels Antwort

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