Marktlücke in der Chormusik
Kurt Suttner über die „Tage der neuen Chormusik“
Vom 30. Oktober bis zum 2. November 2003 werden in Aschaffenburg
zum ersten Mal die „Tage der Neuen Chormusik“ veranstaltet.
Die Initiative geht zurück auf Kurt Suttner, der als vielfältiger
Ideengeber und als Leiter des Münchner via-nova-chors (man
feierte soeben den 30. Gründungstag) weit über die Chorszene
hinaus bekannt ist. Gedacht ist an ein Wochenende mit zeitgenössischer
Chormusik, in dem die Konzepte von Donaueschingen und Darmstadt
(Präsentation des neuesten Stands und Werkstatt, zurechtgeschnitten
auf die Bedingungen der Chormusik) verknüpft sind. Reinhard
Schulz sprach mit dem Initiator Kurt Suttner über das groß
angelegte neue Projekt.
Oper & Tanz: Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatte
die Chormusik weithin den Ruf verzopfter Bardenherrlichkeit. Dann
aber änderte sich dieser Charakter durch das Interesse zeitgenössischer
Komponisten durch Chöre wie Clytus Gottwalds schola cantorum
fundamental. Wie stellte sich für Sie diese Entwicklung dar?
Kurt Suttner: Ich habe erst später einen Bezug dazu
bekommen. Ich habe von 1954 bis 1959 an der Münchner Musikhochschule
studiert und da war chorisch so gut wie nichts geboten. Freilich
gab es aus der Jugendmusikbewegung heraus Singkreise zu denen ich
bald Kontakt bekam. Ich habe dann mit Konrad Ruhland zusammen die
Capella antiqua München gegründet, wo wir uns aber ausschließlich
mit alter Musik beschäftigten. Das war eine neue Bewegung.
Man fragte sich, wie diese Musik seinerzeit geklungen hat. Mich
als Schulmusiker interessierten dabei auch immer schon die Bezüge
zur neuen Musik. Und schon bald haben wir uns, allerdings unter
Laienbedingungen, an einfacheren zeitgenössischen Stücken
versucht. Das war also ein ganz anderer Weg als der von Clytus Gottwald,
der auf professionellen Sängern aufbaute.
O&T: Die Verknüpfung von ganz alter und neuer
Musik war damals so etwas wie ein Trend, der im Grunde zum Teil
bis heute anhält.
Suttner: Es war eigentlich eine Abkehr von der Romantik.
Gerade in der Chormusik wurde ja die Romantik oft in falscher, extrem
gefühlsbetonter Weise wiedergegeben. Das wurde von den jungen
Musikern abgelehnt. Man suchte abstraktere Formen, das Konstrukt,
das Analytische, das Rationale. Und das fand man eher bei Machaut
oder Dufay und dann wieder in der Moderne. Viele Komponisten erkannten
sehr schnell, dass die menschliche Stimme als Klangerzeuger eine
unendliche Vielfalt hat, die der des Instruments überlegen
ist. Und hier konnte man sich auch Anregungen aus der späten
Romantik oder frühen Moderne, bei Reger, Strauss oder Schönberg
holen.
O&T: Wie groß war denn damals die Bereitschaft
bei den Ausführenden, bei den Chören, für diese Umorientierung?
Suttner: Nun, das professionelle Singen zielte in seiner
Ausbildung in ganz andere Richtung, hin zum bel canto etwa. Laien
waren damals offener, aber auch hier war es mühsam, ein engagiertes
und fähiges Ensemble zusammenzustellen.
O&T: Wie kamen damals eigentlich die Kontakte zu Komponisten
zustande? Kam der Berg zum Propheten oder ging der Prophet zum Berge?
Suttner: Ich kann nur von mir berichten. Ich war sechs
Jahre im Ausland, in Äthiopien und in Madagaskar, und habe
dort viele andere Musikformen als lebendige kennen gelernt. Dann
habe ich am musischen Pestalozzi-Gymnasium in München unterrichtet
und dort traf ich auf den Schüler Peter Michael Hamel. Der
war allen diesen Ansätzen höchst aufgeschlossen. Er komponierte
und wir haben das dann in der Schule aufgeführt. Auch mit Ulrich
Stranz war das so. Und dann darf man die wichtige Rolle von Fritz
Büchtger nicht vergessen. Er hat die Veranstaltungsreihe „Studio
für Neue Musik“ geleitet, er unterichtete auch Stranz
und Hamel und immer wieder hat er mich animiert, sich mit neuen
Tendenzen auseinanderzusetzen. Er hat selbst zahlreiche Vokalwerke
komponiert. Der junge via-nova-chor hat damals auch Chorwerke von
Büchtger gesungen.
O&T: Es wurden etwa ab den 60er Jahren zunehmend Chorstücke
geschrieben, ich denke an Nono, Ligeti, Lachenmann, Holliger, die
das Leistungsvermögen eines Laienensembles weit überschritten
haben.
Suttner: Da hat sich etwas auseinander entwickelt. Heute
ist eine große Kluft entstanden. Das vokale Denken ist bei
vielen Komponisten sehr viel stärker geworden, aber die Stücke
sind auf die wenigen Profichöre beschränkt, die es heute
gibt.
O&T: Was ist zu dieser Kluft zu sagen? Ist sie unüberbrückbar
manifest oder weichen die Grenzzonen inzwischen auf?
Suttner: Nun, sie weicht etwas auf, da inzwischen immer
wieder Chöre auf quasi semiprofessionellem Niveau entstehen.
Man muss hier aber den Begriff des Profis hinterfragen. Profi ist
nach gängiger Definition, wer vom Singen lebt. Es gibt aber
viele Leute, die eine musikalisch profunde Ausbildung haben, aber
etwas anderes tun. Die kommen dann oft in Chöre, die ein erstaunliches
Niveau entwickeln.
Aber ein andere Überlegung: In den Sängerbünden
betreibt man das Singen häufig primär nicht aus einem
bestimmten Kunstverständnis heraus, sondern auf dem Hintergrund
einer sozialen Motivation. Man trifft sich, man macht gemeinsam
Musik. Das ist sehr ehrenwert. Aber man beachtet häufig gar
nicht, was in der professionellen Musikzene vor sich geht. Dadurch
isoliert man sich und schätzt die professionelle Leistung nicht.
Ich plädiere hier immer dafür, dass es beiderseitige
Toleranz geben muss. Es müssen die Profis ein Verständnis
dafür haben, dass es Leute gibt, die das Singen des Singes
und des Vergnügens wegen betreiben. Aber diejenigen wieder
müssen eine absolute Toleranz gegenüber einem emphatischen
Kunstbegriff entwickeln.
O&T: Gibt es Motoren dafür, weniger in Bezug auf
die chorische Technik, sondern in Bezug auf die gegenseitige Akzeptanz?
Suttner: Einen Motor sehe ich in der nordischen Chortradition,
insbesondere in Schweden. Da hat sich eine Musik aufgetan, die moderne
Klangwirkungen anstrebt, die aber technisch machbar sind. Jetzt
gibt es auch bei uns Komponisten, die einfacheres schreiben, ohne
an Niveau zu verlieren. Ich glaube, das ist schwieriger, eine höhere
Anforderung an einen Komponisten, der ja über den technischen
Anspruch auch sein Selbstwertgefühl (auch im Vergleich zu den
Kollegen) entwickelt. Aus dem Norden kamen da solche Ansätze
– ich brauche nur den Namen Ericson zu erwähnen. Plötzlich
wird eine Fülle von interessanter Literatur bekannt.
O&T: Ist es die ungebrochene Chortradition im Norden,
die solche Ansätze beflügelt?
Suttner: Also ich habe da immer ein Wort von Eric Ericson
im Ohr: „Wir haben den großen Vorteil, dass uns nicht
eine so große Tradition an den Beinen hängt.“ Sie
können also aus verschiedenen Ansätzen das für sie
stimmige auswählen. Bei uns in Deutschland ist auch schuld,
dass das Singen als Ausdrucksbedürfnis nicht selbstverständlich
geblieben ist.
O&T: Ist es nicht auch die gesangliche Folklore, die
dort noch am Leben ist, während sie bei uns weitgehend zum
Erliegen gekommen ist?
Suttner: Das dient in diesen kleineren oder weniger bevölkerten
Ländern zur eigenen Identifizierung. Wer ist denn bei uns in
Deutschland stolz, also stolz im positiven, nicht im überheblichen
Sinne, ein Deutscher zu sein? Das ist durch das Dritte Reich zerstört
worden. Und der anschließende wirtschaftliche Aufschwung hat
kulturell auch wieder ganz andere Akzente gesetzt. Lettland oder
Estland haben hingegen unter der sowjetischen Diktatur nicht zuletzt
im Singen einen Zusammenhalt gefunden. Auch in Schweden kann man
das Wir-Gefühl durch das Singen noch deutlich finden.
O&T: Gibt es bei uns so etwas wie eine Ideosynkrasie
gegen das Komponieren für Chor? Oder zumindest Relikte davon?
Suttner: Ich denke, dass bei uns die Ausbildung in erster
Linie auf instrumentales Komponieren geht. Wenn ein Komponist, der
meist vom Klavier her kommt, wenig Bezug zum Singen hat, dann wird
er nur schwer Zugang dazu finden.
O&T: Wo kann man hier ansetzen?
Suttner: In der Zusammenarbeit von Komponisten mit Chören
sehe ich eine große Chance. Strawinsky hat einmal gesagt:
„Meine kompositorische Phantasie ist immer dann am stärksten,
wenn man mir klare Regeln gibt. Also: Was darf ich und was darf
ich nicht.“ Die Komponisten müssten ein größeres
Bewusstsein für die breite Basis entwickeln. Situationsabhängiges
Komponieren wäre dies.
O&T: Heute wird in den Schulen kaum mehr gesungen.
Suttner: Und wenn, dann ist es meist Rockiges oder Poppiges.
Da möchte ich Leistungen gar nicht schmälern, aber wer
an die Stimme denkt, der muss das problematisch finden, weil die
Pop- und Rockmusik vom Singen her bestimmte Qualitäten gar
nicht im Auge hat. Aber es geht nicht in der Schule los, sondern
schon im Elternhaus. Es gibt keinen singenden Vater mehr, allenfalls
eine Mutter, eine singende Kindergärtnerin gibt es auch kaum
mehr. In der Grundschule setzt sich das fort und den wirklich gut
ausgebildeten Gymnasiallehrern bleibt oft nur die Frustration. Dann
kommt die PISA-Studie und deckt Mängel in der Mathematik auf
und das Kultusministerium sagt: Mehr Mathematik. Das Basismenschliche
wird nicht gesehen.
O&T: Und die Verbände?
Suttner: Der Deutsche Sängerbund ist durch die Tradition
immer noch einer der zahlenmäßig stärksten Verbände
hier. Mittlerweile gibt es auch da eine Jugendbewegung, die nach
Leistung strebt. Da gibt es wirklich ganz positive Ansätze.
Aber die Verankerung in der Basis wird immer schwächer. Dafür
ist auch unsere größere Mobilität mitverantwortlich.
Ich vergleiche das immer mit einer Pyramide. Die muss eine breite
Basis haben und wird zur Spitze immer dünner. Spitze und Mittelschicht
sind bei uns immer noch vorhanden. Die Verankerung aber fehlt.
O&T: Aber es gibt doch viele weitere Aktivitäten,
auch internationale Treffen zum Beispiel.
Suttner: Ja, zum Beispiel „Europa cantat“.
Das wurde schon in den 50er-Jahren gegründet. Man merkte, dass
man sich auf der Basis gemeinsamen Singens auch international verständigen
kann. Hier werden ja auf den Festivals sogenannte Ateliers eingerichtet,
wo ein guter Chorleiter bestimmte Werke einübt. Hier kann man
als Chor etwas erleben, was man zu Hause gar nicht verwirklichen
kann Dann gibt es den AMJ oder auch IAM, die die Tradition der Jugendmusikbewegung
in moderner Form fortführen und Singwochen anbieten.
Auch „Jugend musiziert“ hat seit einigen Jahren das
Singen entdeckt. Dann hat man Landesjugendchöre gegründet,
auch die Kirchen beginnen umzudenken und neue Initiativen zu entwickeln.
Also: Das Bewusstsein über die Bedeutung des Singens ist zumindest
diesbezüglich durchaus im Wachsen.
O&T: Jetzt versuchen Sie die „Tage der Neuen
Chormusik“ zu installieren. Ende Oktober, Anfang November
werden sie zum ersten Mal stattfinden. Wie reiht sich dieses Konzept
in die jetzige Landschaft ein?
Suttner: Also auf diese Art ist das was ganz Neues. Es
gibt natürlich nationale und internationale Chorwettbewerbe
oder zum Beispiel die Chorsymposien des IFCM (International Federation
for Choral Music), wo viel neue Chormusik gesungen wird, aber dieses
Konzept, wo man versucht, mit zeitgenössischer Musik die professionelle
Seite mit den Aktivitäten auf Laienbasis zusammenzubringen,
gibt es meines Wissens nirgendwo sonst. Es geht vom hochspezialisierten
Sänger bis zu Kinderchören. Und der Kontakt von Kindern
zu neuer Musik ist besonders wichtig aber auch häufig viel
unkomplizierter, als man meint: Denn für Kinder ist ja alles
neue Musik, sei es ein Stück von Mozart oder eine Komposition,
die heute entsteht.
O&T: Man stößt also mit diesem neuen Festival
in eine „Marktlücke“, man reagiert auf ein Defizit?
Suttner: Ich glaube das schon. Ich will aus eigener Erfahrung
berichten: Wir haben jetzt im via-nova-chor „Wachet auf“
von Bernd Alois Zimmermann gesungen. Es ist gut geworden, das darf
ich ruhig sagen. Es ist ein Ergebnis einer schrittweisen Hinführung
von jungen Leuten, die Singen nicht professionell betreiben. Dadurch,
dass sie immer daran geblieben sind, haben sie erfahren, dass es
einen musikalischen Horizont gibt, der weit über das bisher
Gelernte und Gekannte hinaus geht.
Das ist eine Erfahrung, die die „Tage der Neuen Chormusik“
in großem Umfang vermitteln wollen. Ich erhoffe mir, dass
hier ein Diskussionsforum entsteht, das kompetent über Sinnvolles
und vielleicht weniger Sinnvolles in neuer Chorarbeit debattiert.
Es muss doch möglich sein, in der Vokalmusik etwas zu tun,
was in der Instrumentalmusik – siehe etwa Darmstadt –
seit langem möglich ist.
O&T: Das ist aber auch eine Chance für die Neue
Musik.
Suttner: Auf jeden Fall. Mich bestürzt es schon etwas,
wenn ich spüre, dass es Komponisten gibt, die sich um die Wirkung,
um die Akzeptanz ihrer Musik eigentlich nur wenig kümmern.
Freilich soll das Publikum dem Komponisten keine Vorschriften machen.
Aber wenn es der Komponist gar nicht im Auge hat, wenn er nur in
abgehobener Sphäre mit seinen Kollegen über die Musik
diskutiert, dann scheint mir das nicht richtig. Hier kommt wieder
die Pyramide ins Spiel. Auch das hochselektive Tun sollte von der
Basis gestützt sein. Wenn unser Konzertpublikum zurzeit immer
älter wird, dann ist das ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt.
Viele junge Komponisten allerdings sehen das Dilemma. Sie entwickeln
sich dort hin. Man kann durchaus ideenreiche, sensible und technisch
versierte Leute finden, die einen anderen Weg einschlagen wollen.
Vielleicht kann man auch einmal Brücken zur Pop-Rock-Szene
schlagen, ich will das gar nicht ausschließen.
O&T: Wie ist nun die Konzeption des ersten Festivals
strukturiert?
Suttner: Es gibt ein Eröffnungkonzert mit dem SWR-Vokalensemble
mit der Kombination Rihm und Gesualdo und nach der Pause die Bußpsalmen
von Schnittke – ein Programm, das wohl nur ein Profichor bewältigen
kann. Dann gibt es ein Referat von Clytus Gottwald, der wohl am
entschiedensten die zeitgenössische Chormusik in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts mitgeprägt hat. Das Thema:
„Wurzeln, Stationen und Ausblicke“. Dann gibt es einen
Interpretations- und Dirigierkurs von Manfred Schreier, auch ein
Vertreter der extremen Avantgarde. Dann gibt es das AMJ-Projekt
„Komponistinnen/Komponisten schreiben für Kinder- und
Jugenchöre“. Dann gibt es Reading-Sessions, in denen
sich Chorleiter, aufgeteilt in vier Bereiche, über neue Chorliteratur
informieren können. Dann gibt es ein Projekt mit Professor
Wippermann „Notationsformen in der zeitgenössischen Chormusik“.
Dann gibt es eine Notenausstellung und womöglich Filme über
außereuropäische Gesangstraditionen. Eine Reihe von Konzerten
mit quasi semiprofessionellen Chören wird dann schließlich
abgeschlossen durch das Uraufführungskonzert am Sonntag. Diesmal
ist es von Thomas Jennefelt. Hier sollen aber, falls zweijährig
konzipiert, das Festival weitergeführt werden kann, jeweils
andere technische und ästhetische Akzente gesetzt werden.
O&T: Was würden Sie sich im Idealfall für
Wirkungen von den „Tagen der Neuen Chormusik“ erhoffen?
Suttner: Dass es eine Veranstaltung wird, die über
die Grenzen der gegenwärtigen Chorverbände hinaus weist.
Das ist das Chorpolitische. Und dann natürlich das gegenseitige
Kennenlernen-Wollen. Dass die Profis ihren existenziellen Zusammenhang
zur Basis erkennen und dass die Basis die Notwendigkeit von technisch
höchstem Anspruch anerkennt, dass sie dafür die Augen
öffnet. Und schließlich, dass die Komponisten sich bewusst
machen, dass sie ihre Stücke für ganz bestimmte Möglichkeiten
schreiben müssen, was keines-
falls mit einer Zurücknahme des ästhetischen Anspruchs
einher-
gehen muss.
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