Ich habe ja alles erreicht
Christoph Forsthoff im Gespräch mit der Sängerin Anja
Silja
Wie ein Wirbelwind fegte sie damals über den Grünen Hügel,
nahm Anfang der 60er Jahre Bayreuth und seinen Herrn Wieland Wagner
im Sturm. Gerade 20 Jahre zählte Anja Silja und doch lag ihr
die Gesangswelt bereits zu Füßen: Mit zehn war sie als
Wunderkind in Konzertsälen gefeiert worden, als 16-Jährige
gab die Sopranistin ihr Operndebüt in Rossinis „Barbier
von Sevilla“ am Stadttheater Braunschweig, mit 19 sang sie
unter Karl Böhm in Wien die „Königin der Nacht“.
Und dann Bayreuth, die Senta im „Fliegenden Holländer“:
Das Wagner-Girlie eroberte das Festspiel-Publikum und anschließend
die Welt – vor allem aber das Herz von Wagner-Enkel Wieland:
Der damalige Festspiel-Leiter wurde ihr Mentor und Lebensbegleiter.
Wagner hat das Schauspielerkind, das allein vom heißgeliebten
Großvater Aders van Rejn ausgebildet wurde, danach nie wieder
gesungen – dafür tritt mit André van Cluytens
erneut ein älterer Mann in ihr Leben. Und wieder muss die Ausnahme-Sängerin
einen frühen Tod verkraften, stürzt sich um so mehr in
die Kunst. Erst in der Ehe mit Christoph von Dohnanyi findet sie
Ruhe. Drei Kinder kommen zur Welt, sie folgt ihm bis in die USA.
Und entschließt sich Anfang der 90er-Jahre es „noch
einmal richtig zu packen“, geht zurück nach Europa. Der
Rest ist Legende, Anja Silja ist bis heute eine gefeierte Sängerin
mit einer erstaunlichen vokalen Frische.
Erst jüngst wurde die 62-Jährige an der Hamburgischen
Staatsoper wieder gefeiert für ihre Rolle der Mère Marie
in Poulencs „Dialogues des Carmélites“ (s. Bericht
auf S. 19). Christoph Forsthoff sprach für „Oper &
Tanz“ mit der Sängerin.
Oper & Tanz: Frau Silja, der Blick in Ihre Biografie,
auf ein Sängerleben von mehr als 50 Jahren, lässt den
Gedanken an eine lebende Legende aufkommen...
Anja Silja: ...ach was – solange ich lebe, ist das
Wort Legende nicht angebracht. Was es heißt, 50 Jahre auf
der Bühne zu stehen, können sich die meisten sowieso nicht
vorstellen.
O&T: Wo hat sich Ihr Leben denn am stärksten verändert?
Silja: Anfang der 50er-Jahre war man voller Begeisterung
und Elan dabei, glücklich darüber, überhaupt wieder
Theater spielen zu können. Heute hingegen sind die meisten
Zuschauer wie auch Künstler doch ziemlich übersättigt,
man sitzt auf diesen vielen Theatern und Opernhäusern wie auf
etwas Selbstverständlichem. Theater ist zur Routine geworden
– und gegen Routine muss man immer kämpfen, denn sie
der Tod jeder Kreativität.
O&T: Alles andere als Routine war sicher auch die Rolle
der „Mère Marie“, die Sie jüngst in Hamburg
gesungen haben – was ist das Reizvolle an Poulencs Werk?
Silja: Schon vom Sujet her ist diese Oper sehr außergewöhnlich,
denn diese strikten Formen und Rituale, die wir darzustellen haben,
gibt es sonst in der Oper nicht: Eine durchkomponierte Oper über
ein Kloster und die dort herrschende Lebens-Facon. Entsprechend
ist das Werk auch komponiert: Sehr rhythmisch, sehr genau, sehr
präzise, sehr bestimmend. Und diese Art bestimmt natürlich
auch die Charaktere. Es handelt sich vor allem um eine geschlossene
Kloster-Gemeinschaft, die stark für die Bewahrung von Werten
eintritt. Es ist ein Stück um die Disziplin und den Glauben,
denn diese bilden ja im Grunde eine Einheit: Ohne Disziplin kann
man nicht glauben, ohne Disziplin würde auch der Glaube schnell
schwinden.
O&T: Sind Sie selbst auch eine Verfechterin solcher
Werte?
Silja: Absolut. Schließlich hat mich meine Disziplin
dahin gebracht, wo ich heute bin, hat dafür gesorgt, dass ich
mich nicht falsch einschätze, mich nicht überschätze
und hundertprozentig hinter dem stehe, was ich tue – und auch
daran glaube.
O&T: Noch einmal zurück zum Thema der Oper: Zugespitzt
formuliert ließe sich dies auch beschreiben mit „Sterben
für den Glauben“...
Silja: ...es ist mehr ein „Sterben für den anderen“.
Oder vielmehr ein „Dasein für den anderen”: sich
in einer Gemeinschaft zu finden und in ihr Erlösung zu suchen.
Das ist keine Frage der Disziplin mehr, sondern des Bewusstseins,
ein Teil des anderen zu sein.
O&T: Dieser Tod für den Glauben, das Dasein oder
auch Sterben für den anderen, ist ja spätestens seit den
Ereignissen des 11. September wieder ein hochaktuelles und jedem
bewusstes Thema.
Silja: Das hat sich in der Tat auch am 11. September in
den Türmen des World Trade Center gezeigt: Wie jeder für
den anderen da war und nicht geflohen ist, sondern versucht hat
dem anderen zu helfen.
O&T: Im Konzept der Hamburger Inszenierung von Regisseur
Nikolaus Lehnhoff haben diese aktuellen Bezüge allerdings keine
Rolle gespielt.
Silja: Ich persönlich finde Aktualisierungen in den
Operninszenierungen sehr störend. Dieser ständige Hinweis
auf aktuelle Themen, die wir tagtäglich im Fernsehen sehen
– das müssen wir doch nun nicht auch noch auf die Oper
übertragen! Opern stehen für zeitlose Probleme –
und dies ist ein zeitloses Problem, das uns immer wieder in allen
Katastrophensituationen begegnet. Das ist ja auch das Großartige
an Opern: Sie haben schon immer Themen aufgegriffen, die absolut
zeitlos sind und ewig gültig bleiben.
O&T: Immerhin kann die Aktualisierung eine Möglichkeit
sein, Menschen den Zugang zur Gattung Oper zu erleichtern.
Silja: Nein, da bin ich anderer Meinung: Brächte man
die Werke so, wie sie vom Komponisten gedacht sind, würde man
viel mehr Leute gewinnen. Auch in den Museen werden die Bilder ja
nicht einfach übermalt, nur weil sie alt sind – und die
Museen erleben derzeit wieder einen Boom, auch bei jungen Leuten.
Die Menschen finden einfach die Gegenüberstellung von alter
und heutiger Kunst interessant.
O&T: Wo sehen Sie die Ursache für dieses Aktualisierungs-Streben
bei vielen Inszenierungen?
Silja: Die Ursache für dieses Problem liegt in den
Schulen: Wer kennt heute noch wirkliche Literatur? Den meisten jüngeren
Menschen sind die Texte von Schiller oder Goethe doch viel zu kompliziert.
Dementsprechend gelten diese Werke als nicht mehr zeitgemäß
und werden immer weniger gelehrt. Und so ist es auch mit der Oper:
Die Jugend kommt im allgemeinen nicht auf den Gedanken in die Oper
zu gehen, weil das ja etwas Altmodisches ist. Und deshalb wird es
dann modern inszeniert, in dem Glauben, damit ein neues Publikum
zu gewinnen – doch die gehen lieber ins Kino als sich eine
Oper anzusehen.
O&T: Warum tritt gerade hierzulande der Sänger
immer stärker zurück hinter das Konzept des Regisseurs?
Silja: Das hängst natürlich mit Wieland Wagner
zusammen: Mit ihm begann die Opernrevolution, doch sie wurde immer
wieder missverstanden. Er befreite die Szene von allem Unnötigen,
stellte aber gleichzeitig große Sängerpersönlichkeiten
an ihre Stelle. Heute hingegen steht allzu häufig der Erneuerungszwang
und Wunsch an erster Stelle – und dadurch ist wenig Platz
für eine persönliche Interpretation. Es ist fast unmöglich
geworden, in etwas hinein zu wachsen oder in Ruhe zu entwickeln,
da es sofort wieder vergessen ist, wenn nicht ein riesiges Tam-Tam
darum gemacht wird – ein großes Problem unserer Zeit.
O&T: Sie singen jetzt seit 52 Jahren – andere
haben ihre Stimme schon nach 30 Jahren ruiniert: Gibt es ein Geheimrezept,
wie Sie ihre Stimme so lange „erhalten“ haben?
Silja: Erstens habe ich eine außergewöhnlich
lange Ausbildung gehabt durch meinen Großvater: 1946 hat er
mit den ersten Stunden angefangen und mich dann fast täglich
bis zu seinem Tode im Jahr 1962 unterrichtet. Dann gehört dazu
natürlich eine Form von Disziplin sowie auch eine gewisse Unbeschwertheit.
Ich habe nie darüber nachgedacht: Wie singe ich jetzt den nächsten
Ton? Mache ich das auch richtig? Was könnte passieren, wenn...
sondern ich bin immer locker mit der Stimme umgegangen.
O&T: Hatte Ihr Großvater denn keine Bedenken,
als Sie schon mit 20 Jahren Ihre ersten großen Wagner-Partien
in Bayreuth sangen? Davon wird jungen Sängern ja eigentlich
immer abgeraten.
Silja: Nein, das war sein großes Ziel und das wollte
er noch erleben. Er war sicher, dass ich eines Tages Wagner singen
würde.
O&T: Sie haben also nie bereut, schon so früh all
die großen Wagner-Partien gesungen zu haben?
Silja:...nein, nein, um Gottes willen: Dann hätte ich
ja Wieland Wagner nicht kennen gelernt! Bereut habe ich das nie,
denn diese sechs Jahre mit ihm sind das Fundament meines beruflichen
Lebens.
O&T: Was empfand Ihr Großvater denn an Ihrer Mentalität
als „wagnerianisch”?
Silja: Er hat dieses Strahlende in mir erkannt, diese überschäumende
Lebensfreude und dies Unbeschwerte. Er meinte damit diese Freude
und die Fähigkeit zur Konzentration auf ein einziges Ziel:
Sei es nun die Liebe zu einem Menschen, die Liebe zum Beruf oder
die Liebe zur Stimme – also die Begeisterungsfähigkeit
für etwas.
O&T: Nach Wagner haben Sie sich dann sehr mit zeitgenössischen
Opernpartien beschäftigt.
Silja: Ja, nach Wielands Tod habe ich so gut wie keinen
Wagner mehr gesungen, nur noch die bestehenden Verträge erfüllt.
Ich wollte mir ein neues Repertoire suchen – wobei ich anfangs
gar nicht wusste, ob ich das alles überhaupt noch wollte. Dann
habe ich erst einmal das normale Repertoire gesungen, nach und nach
kamen „Wozzeck” und „Salome” dazu –
was ich ja auch mit Wieland schon gemacht hatte. Dann die Russen,
die Janácek-Partien, Reimanns „König Lear”,
Schönbergs „Erwartung” und „Pierrot Lunaire”
– doch das ist bei mir dann auch schon das Modernste gewesen.
O&T: Sie haben Ihr Leben oft mit der Existenz der Emila
Marty verglichen, der Protagonistin aus Janáceks „Die
Sache Makropoulos” – würden Sie auch gern 330 Jahre
alt werden?
Silja: Nein, nein, ganz bestimmt nicht. Aber die Aussage
dieses Stückes ist ja auch eigentlich, dass man froh sein sollte
sterben zu können, wenn die Zeit reif ist. Als Emilia merkt,
dass sie schwächer und schwächer wird und der Tod eigentlich
gar nicht so schrecklich ist, sagt sie sich: Warum hatte ich eigentlich
Angst? Warum bin ich nicht schon viel früher gestorben?
Und das ist es, was auch ich so empfinde: Man hat ja nie etwas verpasst.
O&T: Daher auch Ihre Feststellung, das Leben sei inzwischen
gar nicht mehr so spannend?
Silja: Ich habe ja alles erreicht: Ich habe Erfolg gehabt,
habe die Menschen getroffen, die mir sehr viel bedeutet haben und
habe sie verloren, habe meine Kinder und meine Enkelkinder.
O&T: Wenn Sie alles erreicht haben, warum haben Sie
Ihre Erinnerungen dann mit dem Buchtitel „Sehnsucht nach dem
Unerreichbaren” betitelt?
Silja: Ich meine damit die Sehnsucht nach den beiden Menschen
(Wieland Wagner und André Cluytens, d. Red.), die ich verloren
habe – privat habe ich nie erreicht, was ich ersehnt habe.
O&T: Lässt sich denn eine Beziehung überhaupt
„zu Ende leben”?
Silja: Vielleicht nicht, doch irgendwann ist es nicht mehr
so schmerzlich, wenn sie zu Ende geht. Wenn Sie das jetzt auf meine
Ehe beziehen wollen: Es ist nicht mehr so schmerzlich, weil man
ja ein Leben zusammen gelebt hat, um dann vielleicht zu erkennen,
dass die Wege oder die Einstellungen und Vorstellungen doch zu unterschiedlich
sind. Das aber ist in den beiden vorherigen Beziehungen eben nicht
der Fall gewesen.
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