Unzumutbare Wahrheiten
Wolfgang Rihms Oedipus in Mönchengladbach · Von Georg
Beck
Wer ist Ödipus? Ein Jedermann, wie der nach dem tragischen
antiken Heros benannte „Komplex“ behauptet? Oder doch
eine Ausnahmeexistenz? Solche Lesart zumindest scheint ein Handzettel
nahe zu legen, der im Foyer des Theaters Mönchengladbach mitgenommen
werden darf. Über der in großen Lettern geschriebenen
Werk-Ankündigung ist ein Foto montiert mit den Augen des Komponisten
in Nahaufnahme. Hochgezogene Brauen und ein Blick, von dem schwer
zu sagen ist, ob er teilnahmslos drein- oder eher wissend durch
den Betrachter hindurchschaut. Träfe letzteres zu, entstünde
die Frage, wohin dieser Blick geht und was er mit den Ödipus-Augen,
die zuviel gesehen haben, zu tun hat? Überhaupt: Zuviel gesehen
von was? Die Antwort der Inszenierung von Gregor Horres lautet:
Zuviel von der Wahrheit. Die obsessive Konsequenz, mit der Rihm
seine Musik von Anfang an dem postkognitiven Zustand seines Helden
anpasst, jede „Vorbereitung“ eliminiert, so wie er den
tragischen Wahrheitssucher sich ungerührt in den Untergang
hineinfragen lässt, unterläuft jeden Konsens gegenwärtiger
Produktion, sei es den ästhetischen wie den schrillen.
Im Gegensatz zu Rihms „Jakob Lenz“, einer der erfolgreichsten
Musiktheaterproduktionen der achtziger Jahre, fristete sein „Oedipus“
eher ein Stiefmütterchendasein. Nach der Uraufführung
1987 an der Deutschen Oper Berlin unter Götz Friedrich tritt
er erst jetzt unter der Intendanz von Jens Pesel wieder auf die
Bühne. Fürs Theater ist es eben schwer, wenn die dramatische
Entwicklung vornehmlich aufgrund von Bewusstseinsfortschritten eines
Helden Gestalt gewinnen muss.
Wer ist Ödipus? Einer, der nach seiner Geschichte fragt. In
Mönchengladbach fragt Johannes M. Kösters. Dank sängerischer
wie schauspielerischer Kompetenz wird Kösters zur tragenden
Säule einer kraftvollen Inszenierung. Ronald Carter ist ihm
dabei ein starker Kreon-Gegenspieler. Carola Guber als gespaltene
Iokaste – Ehefrau und stumme Frau am verzweifelten Erkenntnisende
des Dramas – eine klar agierende Partnerin.
Entscheidende Stütze dieser szenisch-musikalischen Architektur
ist der von Heinz Klaus perfekt präparierte Herrenchor aus
je acht Tenören und Baritonen. Kirsten Dephoff hat sie in schwarze
Anzüge gesteckt mit schwarzen Hüten auf den Köpfen.
Der Chor ist die „Öffentlichkeit“: erst servil
gegenüber Ödipus, schließlich ihn einkreisend, als
er nicht zu Wege bringt, was von ihm verlangt wird, nämlich,
die Stadt von der Seuche befreien. Und als sich der Verzweifelte
blendet, weil er alles begriffen hat, ist es der wohllöbliche
Rat, der die Bühne erobert und mit höhnisch verbundenen
Augen den Unglücklichen vertreibt. Gängige Hosianna-Kreuzige-ihn-Praxis.
In Rihms Nicht-Handlungsoper erwächst diesem modernen Antikenchor
eine zentrale Protagonistenrolle, was die vereinigten Tenöre
und Baritone der Bühnen Krefeld und Mönchengladbach darstellerisch
und sängerisch glänzend meistern. Im Graben agieren dazu
die Niederrheinischen Symphoniker, die Kenneth Duryea sicher durch
die von Rihm aufgeworfenen scylla-charybdischen Klangaffektgebirge
führt: Musik zu einem Bühnengeschehen, die keine Bühnenmusik
sein will. Fortissimo-Blitze aus Blech- und Holzbläsern, opulentem
Schlagwerk und Klavier zertrümmern im nächsten Moment,
was eben noch groß dastand, wozu Rihm – bis auf eine
Ausnahme – keine Streicher braucht. Erst als sich Ödipus
blendet – das Blut fließt aus den Augenhöhlen seines
stummen, gesichtsmaskierten Doppelgängers am Bühnenrand
– lässt der Komponist zwei Soloviolinen hinzutreten.
Deren laute Töne in den höchsten Lagen sind die Klingen,
die die Augen desjenigen, der zuviel von der Wahrheit gesehen hat,
schließen, indem sie sie öffnen.
Dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar sei wie Ingeborg Bachmann
schrieb – einen Satz, den Dramaturg Peter Stalder vielleicht
etwas zu sorglos ins Programmheft gehievt hat, wäre in dieser
Hinsicht in Frage zu stellen: Für diesen Menschen jedenfalls
ist sie unzumutbar. Gut zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung wird
die Historizität dieser Oper kenntlich, gerade indem Horres’
sich für das „unmoderne“ antike Triebmoment, für
das Zeitüberschreitende des Geschehens interessiert.
Was ist „Oedipus”? Als Musiktheater das Symbol einer
Zeit, die ihre Geschichte noch kennen wollte. Insofern ist dieses
Musiktheater tatsächlich historisch. Im aktuellen Taumel technologischer
Machtspiele und längst nicht mehr nur virtueller Selbsterschaffungs-
und Selbstauslöschungsphantasien erlangt solche Kunst eine
Memento-Qualität – vergleichbar den zerbrochenen Säulen
im Mönchengladbacher Theaterraum. Wer nicht aufpasst, wird
sich daran stoßen.
Georg
Beck
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