Editorial
Im Interesse der Opfer der Ausforschungstätigkeit des Ministeriums
für Staatssicherheit der DDR sind dessen Akten nach der Wende
nicht, wie von manchen gefordert, vernichtet worden. Sie werden
von der nach ihrem ersten Leiter benannten Gauck-Behörde
geordnet und verwaltet; innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens
ist, auch heute noch, Einsicht möglich.
Die Einsichtnahme hat stets zwei Folgen: Das Opfer erfährt,
von wem es bespitzelt wurde und wie eingetretene Schäden in
seinem privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Umfeld zustande
gekommen sind. Und der Spitzel, ob er nun hauptberuflicher oder
inoffizieller, informeller Mitarbeiter des MfS war, ist in aller
Regel enttarnt.
Wie im deutschen Strafrecht üblich, ist das Interesse des
Staates und auch der Öffentlichkeit weit mehr
auf Verfolgung und Bestrafung des Täters gerichtet denn auf
Entschädigung des Opfers. Für die Opfer ist das ein schwer
zu ertragender Zustand.
In den Theatern in den neuen Bundesländern, wie auch in deren
öffentlichem Dienst, war Anfang der Neunzigerjahre auf den
Personalbögen die Frage nach einer Mitarbeit für die Stasi
gestellt. Ein Verschweigen solcher Mitarbeit sollte mit fristloser
Entlassung geahndet werden, was allerdings nur im Freistaat Sachsen
konsequent exekutiert wurde. In der Praxis stellte sich das Problem
aber nur selten, da in den Ensembles meist bekannt war, wer, insbesondere
bei den Reise-Kadern, für die Firma gearbeitet
hatte. Eine sehr vernünftige, sehr humane Selbstreinigung fand
statt: In Abwägung der Situation des Täters und des von
ihm verursachten Schadens wurde intern und individuell entschieden.
Dieses Prinzip der individualisierten, nicht pauschalierten Behandlung
des Stasi-Problems sollte auch heute noch gelten.
Weder selbstgefälliger moralischer Rigorismus noch Bestrebungen,
Verhaltensweisen der Vergangenheit aus ihrem historischen Zusammenhang
herauszulösen und mit heutigen Maßstäben zu messen,
um sie dann politisch zu instrumentalisieren, dürfen Platz
greifen.
Peter Sodann, Intendant des neuen theaters Halle, selbst ein zehn
Monate lang inhaftiertes Opfer der Stasi, meinte in einem Interview,
dass es bei einer Schuld immer auch eine Sühne und eine
Vergebung geben muss. Das kann man als Christ fordern, als Kommunist
oder eben einfach als Mensch. Darum plädiere ich für eine
Prüfung des einzelnen Falles, für die Untersuchung der
konkreten Mitarbeit... Denn auch wenn ich eine moralische Anstalt
betreibe, darf ich wohl nicht der höchste Richter meines Nächsten
sein wollen. Mit diesem Anspruch käme ich doch in gefährliche
Nähe zum einstigen Selbstverständnis der Mannen um Erich
Mielke. Und ich würde möglicherweise Existenzen zerstören,
wie sie es getan haben.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ihr
Stefan Meuschel
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