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CD Aktuell
Eiskalte Engel des Todes
Neue Opern-Einspielungen
Amiens, Pariser Platz: Studenten treiben sich herum, warten auf
die Kutsche aus Arras: e la notte regnerà; die
Triangel klirrt, ein kurzes Ritardando, dann setzt der Chor wieder
ein: e splendente ed irruente. Wir sind im ersten Akt
von Puccinis Manon Lescaut. Riccardo Muti dirigiert
in einem Live-Mitschnitt vom Juni 1998 Chor und Orchester der Mailänder
Scala. Ein großer Moment, nicht zuletzt dank der differenzierten
Chor-Stimmen. Das Tempolimit ergibt sich aus dem musikalischen Verlauf.
Muti kostet es aus einer der wenigen Momente, in denen er
Puccini in die Nähe der französischen Opéra rückt.
Denn ansonsten verzichtet er weitgehend auf psychologisierende und
idealisierende Überbauten: Verismo statt Verklärung. José
Cura singt den Des Grieux erhaben, ausgeklügelt, doch mit leichtem
Hang zur Überzeichnung. In seine Tränen mischt sich Sirup,
und prompt verliert sein Leiden an Natürlichkeit. Maria Guleghina
als Manon überzeugt mit ihrer Fähigkeit, natürlich-fein
kalkulierte Bögen zu spannen, angereichert mit rollengerechter
Emotionalität. Doch wenn sie ins schwebende Piano zurückfällt
(In quelle trine morbide), setzt unverhofftes Flackern
ein. Der lyrische Fluss gerät kurz ins Stocken.
(DG/Universal 2 CD 463 186)
Bereits neun Jahre vor Puccini hatte Jules Massenet denselben Stoff
unter dem Titel Manon vertont. Das so oft hochgejubelte
Dream-Team Angela Gheorghiu und Roberto Alagna ist nun in den Hauptrollen
der neuen EMI-Produktion zu hören. Schnell wird klar: Beide
nehmen ihren Patz in der Champions-League der Sängergilde völlig
zu Recht ein. Perfekt die Mischung aus Präzision und Lyrismus;
unmanieriertes, flexibles Singen, Hochspannung bis in die Haarspitzen.
In den weiteren Rollen hören wir unter anderem Earle Patriarco,
José van Dam und Gilles Ragon. Antonio Pappano hält
das Orchestre symphonique de la Monnaie über zweieinhalb Stunden
unter Dampf. Kein Platz für Unzulänglichkeiten. Und der
Chor? Nur so viel: Wer sich das Finale des vierten Aktes einverleibt,
sollte seinen CD-Spieler zuvor auf Wiederholung programmiert
haben.
(EMI 3 CD 5 57005 2)
Und noch einmal Massenet: Die Rolle der Thaïs in seiner gleichnamigen
Oper ist ein Psychogramm, das stimmlich umzusetzen eine höchst
vertrackte Sache ist. Die Anforderungen an die Sänger sind
enorm. Doch was Renée Fleming aus dieser Rolle macht, lässt
nur eine Verordnung zu: Bei dieser Aufnahme herrscht Besitzzwang.
Sie singt mit unglaublicher Elastizität und mit einem ästhetisierenden
Kunstsinn, der uns Abgründe erschauen lässt: hysterische
Süße, höllische Selbstzweifel, keusche Verhaltenheit.
Wie glänzend die Stimme gestützt ist, erweist ihre Fähigkeit,
Pianissimi mit Minimalluft zu produzieren. Bravouröser, inniger,
glaubwürdiger ist Thaïs wohl nicht denkbar. Ebenso exponiert
Thomas Hampson, einen wundervollen, mit feinen dynamischen Nuancen
singenden und deutlich deklamierenden Athanaël, sowie Giuseppe
Sabbatini den Nicias. Ein glänzender Chor und das Orchestre
National Bordeaux Aquitaine werden von Yves Abel zu Diskretion und
Temperament gleichermaßen verpflichtet.
(Decca/
Universal 2 CD 466 766)
Beim Schweizer Label Nightingale Classics hat man die Reihe der
Donizetti-Einspielungen mit Maria Stuarda fortgeführt.
Octavio Oprisanu ist ein verhaltener Roberto, mit einem manchmal
unglücklichen Timing der Phrasen. Edita Gruberova in der Titelpartie
singt mit einer gebärdenhaften Intensität, die ihresgleichen
sucht: Bel-Canto in Reinkultur. Die Genauigkeit ihrer Dynamisierungen
ist frappierend, überwältigend die unmerklichen Rückungen,
mit denen sie die Linearität der Tonfolgen vor jeder Monotonie
bewahrt. Ausdrucksvoll der Chor des Bayerischen Rundfunks, überzeugend
das Münchner Rundfunorchester unter Marcello Viotti.
(Nightingale
Classics/Koch 2 CD 190 209)
Eines der großen Chorwerke der Romantik haben Charles Dutoit
sowie Chur und Orchestre symphonique de Montréal eingespielt
und dabei Maßstäbe gesetzt: die Grande Messe
des morts von Hector Berlioz. Heikel wird das Ganze erst im
Dies irae, wenn mit niederschmetternder Gewalt das Jüngste
Gericht Einzug hält. Prassel-Pauken und Fernorchester als Pforten
zum Weltende, der Chor als ein Volk aus Furcht und Klage. Die Masse
wirkt für sich willkommen, Apokalypse. Doch Dutoit behält
auch hier stets die Übersicht, sorgsam wacht er über seine
Instrumentalisten und einen Chor, dem es weder an Schärfe noch
an Durchsichtigkeit fehlt. Kalte Engel des Schreckens halten das
Zepter hoch und verkünden das Jenseits. Doch plötzlich
tauchen Momente der Erhebung auf: Wärme kriecht durch die Totenmesse,
Besinnlichkeit und ein Hauch von Zuversicht breiten sich aus. Eine
Aufnahme, die Spaltungen offenlegt und Gegenwelten miteinander verbindet.
(Decca/Universal
2CD 458 921)
Christoph
Vratz
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