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Bericht
Tödliche Liebe
Pelléas und Mélisande in Leipzig
Allein schon ob seiner durchweg leisen Stimmungen und Töne
wird das inzwischen ein Jahrhundert alte lyrische Drama ,,Pelléas
und Mélisande von Claude Debussy ein Ausnahmewerk bleiben.
Während die Musik fast gleichzeitig entstandener Werke wie
Giacomo Puccinis Tosca, Richard Strauss Salome
und Leo Janáceks Jenufa die Theaterbesucher
anpackt und zur unmittelbaren Anteilnahme herausfordert, setzt Debussy
ein waches Hineinhören in seine Klänge voraus, verlangt
die an Symbolen reiche Dichtung Maurice Maeterlincks ein tiefes
Eindringen in jeden Satz.
Zufall oder Schicksal
Wie in Richard Wagners Tristan und Isolde geht es
um einen Dreieckskonflikt Liebender. Doch im krassen Unterschied
zu den aktiv handelnden, zueinander drängenden Titelgestalten
Wagners verhalten sich die Maeterlincks und Debussys gänzlich
passiv. Der Zufall, oder nach der Auffassung von Pelléas
gütigem Großvater, dem alten, fast blinden König
Arkel des schattenhaften Reiches Allemonde das Schicksal
fügt das Geschehen. Alles in diesem alten Schloss und seinem
Park, auch das nahe liegende Meer, zeigt sich düster, bedrückend,
rätselhaft, unbegreiflich, fremd.
Die Begegnung Mélisandes mit Golaud, dem Bruder Pelléas,
entspringt dem Zufall. Die von Golaud erstrebte Verbindung nimmt
Mélisande im Sinne Arkels als schicksalhafte Fügung
hin. Mehr oder weniger zufällig begegnen sich Pelléas
und Mélisande in rührend naiver Weise, ohne sich ihrer
Zuneigung bewusst zu werden, bewusst werden zu wollen. Als Pelléas
endlich darüber Klarheit gewinnt, will er abreisen. Doch der
Abschied gestaltet sich zur Katastrophe, weil der letztlich grundlos
eifersüchtig gewordene Golaud die Zusammenhänge nicht
erkennt. Er vermag in seiner Einsamkeit innerhalb dieser rätselhaften
Welt andere nicht zu verstehen und wird so zum Mörder an Pelléas,
zum Schuldigen am Tod Mélisandes. Das alles könnte auf
den ersten Blick als ziemlich weltfremd verstanden werden. Doch
beim genaueren Hinsehen und -hören erweist sich dieses lyrische
Drama, diese Tragödie, als ergreifender und erschütternder
Ausdruck von Einsamkeit und Entfremdung, die Maeterlinck und Debussy
aber keineswegs zeitgebunden erleben lassen.
Der am Ende der Spielzeit an die Deutsche Oper Berlin wechselnde
Intendant Udo Zimmermann kündigte die Premiere dieses Werkes
in der Urfassung (für die Akteure der im April folgenden Falstaff-Inszenierung
freundlich gesagt nicht eben kollegial) als letzte
große Tat seiner elfjährigen Amtszeit an. Mit der Verpflichtung
des Dirigenten Marc Minkowski, des Regisseurs John Dew, des Bühnenbildners
Roland Aeschlimann, des Kostümbildners José-Manuel Vazquez
und sechs Gastsolisten für nur sieben Vorstellungen sind die
Finanzen der Spielzeit wohl weitgehend erschöpft. Günter
Neubert muss sich als Komponist des Auftragswerkes Persephone
oder Der Ausgleich der Welten mit zwei konzertanten Aufführungen
Ende Mai zufrieden geben!
Klangkultur
Zu Hören ist mit dieser Pelléas-Inszenierung
fraglos Großartiges. Marc Minkowski, bisher ja vor allem mit
Barockmusik denkbar erfolgreich, führt das Gewandhausorchester
und die Solisten zu einer beispielhaften Gestaltung. Das Orchester
beeindruckt besonders mit seiner Klangkultur und bei allem im Sinne
der Partitur weitgehend gedämpften Musizieren mit feinsten
Klangschattierungen und Schwebungen.
Die junge tschechische Künstlerin Magdalena Kozená
erweist sich mit ihrem wunderbar nuancierten Gesang und ihrem natürlichen,
ungekünstelten Spiel als ideale Mélisande. Für
die ungleichen Brüder wurden mit dem Kanadier Brett Polegato
(Pelléas) und dem Franzosen Vincent Le Texier (Golaud) zwei
leistungsstarke Sänger von großer Ausstrahlungskraft
gewonnen. Jérôme Vernier drückt mit seinem von
Einsamkeit und Trauer erfüllten Gesang alles aus, was den mit
wenigen Gesten agierenden Arkel bewegt. Marion Harousseau zeigt
Golauds Sohn Yniold als kindlich anrührende Gestalt. Marie
Noël Vidal als Mutter Geneviève und (vom Leipziger Ensemble)
Soon-Won Kang als Arzt überzeugen in den kleinen Partien.
Premierenbeifall
Der Dortmunder Intendant John Dew folgt in seiner Inszenierung
weitgehend dem Charakter der Musik und führt die Akteure mit
langsamen Bewegungen und verhaltenen Gesten. Roland Aeschlimann
entwarf einen für alle Szenen brauchbaren Bühnenbau, der
einer Meereswoge gleicht, vor der es kein Entrinnen gibt. Diese
Bühnengestaltung ermöglicht innerhalb der fünf Akte
einen pausenlosen Szenenwechsel, so dass auf die für die Uraufführung
nachkomponierten (keineswegs belanglos geratenen) Zwischenspiele
verzichtet werden kann. Ein Tisch und wenige Stühle dienen
als entbehrliche Requisiten, an deren Stelle Versenkungen oder herauszufahrende
Erhöhungen zwingender wirken könnten. Dass sich alle Akteure
immer auf der Bühne befinden, lenkt vom Geschehen ab, auch
wenn die jeweils nicht Beteiligten abgewandt stehen oder im Dunkel
liegen. So wie die Kostüme von José-Manuel Vazquez mit
Ausnahme des weißen Kleides der Mélisande nur zwischen
tiefschwarz und dunkelgrau changieren, bleibt auch die Ausleuchtung
der Bühne trotz mancher Kontraste ziemlich stumpf im Gegensatz
zum Reichtum der Klangfarben des Orchesters. Der Premierenbeifall
für den Dirigenten, die Sänger und das Gewandhausorchester
war spontan und stürmisch. Einige Buh-Rufe gab es für
John Dew.
Werner
Wolf
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