Kulturpolitik
Auf ein Wort mit Nele Hertling
Über die Notwendigkeit der Kunst
Die Dramaturgin und Intendantin Nele Hertling im Gespräch mit Tobias Könemann, Rainer Nonnenmann und Gerrit Wedel
Am 15. November 2024 erhielt Nele Hertling im Theater Altenburg Gera den Deutschen Theaterpreis DER FAUST für ihr Lebenswerk. 1934 in Berlin geboren, studierte sie Germanistik und Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität und arbeitete anschließend freischaffend für Rundfunk und Theater. 1962 wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Künste (AdK) West-Berlin in den Abteilungen Musik und Darstellende Kunst. Später war sie hier auch Vizepräsidentin und Stellvertretende Direktorin. Bis heute ist sie Direktorin der Sektion Darstellende Kunst. In diesen Funktionen förderte Nele Hertling maßgeblich die freie Tanz- und Theaterszene in Berlin und Deutschland sowie ab 1987 als Leiterin der Werkstatt Berlin zur Erarbeitung des Programms für Berlin als Kulturstadt Europas und schließlich als Intendantin des Hebbel-Theaters 1989 bis 2003. Mit „Pantomime Musik Tanz Theater“ (PMTT) gründete sie an der AdK ein wichtiges internationales Performance-Festival sowie mit „Tanz im August“ eines der bis heute größten internationalen Tanzfestivals in Deutschland, das internationale Performance-Kunst in die damals eingemauerte Stadt brachte und Merce Cunningham, Anne Teresa de Keersmaeker, Robert Wilson und andere zu Akteuren der deutschen Theaterszene machte. Die heute Neunzigjährige ist unvermindert kulturpolitisch aktiv und engagiert sich gegenwärtig intensiv für die Berliner Tanzszene gegen Kürzungspläne. Zudem ist sie nach wie vor Ehrenmitglied im Kuratorium der Stiftung TANZ Transition Zentrum Deutschland.
Oper & Tanz: Liebe Frau Hertling, herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Theaterpreis DER FAUST. Sie haben schon viele Preise erhalten. Nun wurden Sie für Ihr „Lebenswerk“ ausgezeichnet. Worin sehen Sie selbst Ihr „Lebenswerk“?
![Nele Hertling bei der Verleihung des FAUST-Theaterpreises 2024 in Gera. Foto: Markus Nass](/archiv/2025/01/grafik/z_ot_2025_01_Seite_07_Bild_0001.jpg)
Nele Hertling bei der Verleihung des FAUST-Theaterpreises 2024 in Gera. Foto: Markus Nass
Nele Hertling: Das habe ich mir bei meiner Antwort auf die Laudatio bei der Preisverleihung auch schon überlegt. Im Grunde ist es eine gewisse Haltung, die mich mein ganzes Leben begleitet hat. Ich hatte eine komplizierte Kindheit, mit einer jüdischen Mutter und einem Vater, der zusätzlich ein jüdisches „illegales“ Ehepaar versteckt hat. Meine Mutter und ich mussten aufs Land ausweichen, um der Gefahr zu entgehen, und ich hatte als Kind immer ein unbestimmtes Gefühl der Angst. Deswegen war für mich das Ende von Krieg und Faschismus ein unglaublich positives Erlebnis; ich war damals elf Jahre alt. Und dieses Gefühl, dass vieles möglich und mit Engagement zu erreichen ist, hat mich nicht mehr verlassen, weder in der Schule noch im Studium an der Ost-Berliner Humboldt-Universität und auch später nicht, als ich selbst etwas aktiv gestalten konnte, beteiligt war, mit anderen zusammenkommen und kooperieren konnte. Die Überzeugung von der notwendigen Dialogfähigkeit, um gemeinsam etwas zu gestalten, hat mich bei allen Positionen und Projekten geleitet.
O&T: Ihre Mutter war die Musikwissenschaftlerin Cornelia Schröder-Auerbach, Ihr Vater der Komponist Hanning Schröder. Wie hat Ihr Elternhaus Ihren Werdegang geprägt? Und was davon haben Sie dann selbst anderen Menschen weiterzugeben versucht?
Hertling: Die Musik hat mich sehr früh erreicht. Mein Vater spielte auch als Bratschist im Orchester und war abends oft nicht anwesend. Beim Schlafengehen spielte meine Mutter gegen die Sorge und gegen die Angst vor Bombenalarm dann immer für sich und mich auf dem Klavier. Das hat mich geprägt: Musik als eine sehr einflussreiche Möglichkeit, einen emotional und gedanklich zu erreichen. Ich hatte dann auch selbst Unterricht in Klavier, Geige, Bratsche, habe aber bald gemerkt, dass es mich mehr zum Theatralischen hinzieht. Dennoch habe ich immer versucht, Musik als eine positive Erfahrung an Familie, Freunde, Kollegen weiterzugeben.
O&T: Sie werden oft als „Kuratorin“ bezeichnet, verstehen sich selbst aber eher als Dramaturgin. Was macht für Sie den Unterschied?
Hertling: Kuratoren wählen etwas aus, machen eine Ausstellung und wählen die dafür passenden Künstlerinnen und Künstler aus. Dramaturgie geht für mich tiefer in die Inhalte, da gestalte ich mit, gebe etwas vor, gehe mit in die Diskussion über die Rollen der Künstler, über Schwerpunkte und Inhalte, die ein Künstler zum Projekt beitragen kann. Das war für mich immer entscheidender. Wenn man ein Haus leitet, dann kuratiert man auch. Als Dramaturgin gehe ich dann aber nicht raus, sondern bleibe in der Gestaltung des ausgewählten Programms viel stärker inhaltlich dabei.
O&T: Mit Ihren Tätigkeiten für die Akademie der Künste, den Berliner Senat und das Hebbel-Theater brachten Sie viele internationale Gastspiele in die „Inselstadt“ West-Berlin. Woher kannten Sie all diese Künstlerinnen und Künstler?
Hertling: Das fängt immer bei persönlichen Beziehungen an. Schon durch meine Eltern kannte ich einen gewissen Kreis an Komponisten, etwa Boris Blacher, von denen ich dann wieder etwas über andere erfahren habe. Ich habe in all meiner dramaturgischen Tätigkeit immer versucht, mit anderen gemeinsam zu Entscheidungen zu kommen. In der Akademie haben wir sehr früh das Festival „Pantomime, Musik, Tanz Theater“ entwickelt. Ich habe dazu mit meinem Kollegen Dirk Scheper jeden Kontakt genutzt, der uns weiterhelfen konnte. Denn wir stellten fest, dass Berlin damals zwar großartige Institutionen, Opern, Theater hatte, aber verhältnismäßig wenig Internationalität, weil das nicht ins System der Stadt- und Staatstheater mit festangestellten Künstlern gehörte. Die Akademie ermöglichte uns internationale Reisen. Wir lernten in New York die Szene der Avantgarde kennen, und es gab Kooperationen unter anderem mit Brüssel, auch Austausch mit dem British Council und dem Institut Français oder mit dem Amerika-Haus. Eine Begegnung hat dann immer zur nächsten geführt, immer im Dialog mit anderen – und so kam die Moderne nach Berlin.
O&T: Wie beurteilen Sie die Struktur fester Ensembles an Theatern? Ist das obsolet oder erhaltenswert, gegebenenfalls ergänzungsbedürftig?
![Nele Hertling und Christiane Bauermeister vor dem Plakat von „Sieg über die Sonne“ 1983. Foto: Story press/Jochen Clauss Nele Hertling und Christiane Bauermeister vor dem Plakat von „Sieg über die Sonne“ 1983. Foto: Story press/Jochen Clauss](/archiv/2025/01/grafik/z_ot_2025_01_Seite_09_Bild_0001.jpg)
Nele Hertling und Christiane Bauermeister vor dem Plakat von „Sieg über die Sonne“ 1983. Foto: Story press/Jochen Clauss
Hertling: Absolut letzteres. Ich bin in der freiberuflichen Szene – die darüber auch etwas anders denkt – ein absoluter Verfechter des Erhalts der Stadt- und Repertoiretheater. Ich sehe mir gerne im Museum Werke der Vergangenheit an und gehe genauso gerne in die Oper und ins Konzert, wenn es Programme mit historischer Musik sind. Nur muss es daneben – was damals neu war und erkämpft werden musste – genauso gute Möglichkeiten, Orte, Räume und Förderungen geben für das, was sich neu entwickelt, auch im Dialog mit dem, was an den festen Institutionen auf hohem Niveau in Deutschland da ist.
O&T: Die Verteilung von Mitteln kommunaler Kulturetats für städtische Kulturinstitutionen oder freie Szene birgt viel kulturpolitischen Zündstoff.
Hertling: Angesichts der aktuellen Sparmaßnahmen hatte ich gerade eine Zoom-Konferenz mit der Berliner Tanzszene. Das Staatsballett Berlin ist durch vertragliche Bindungen besser in der Lage, Kürzungen zu überstehen, die es dort auch gibt, als freiberuflich arbeitende Ensembles, bei denen Kürzungen womöglich das Ende bedeuten. Diese Debatten werden gegenwärtig in vielen Großstädten geführt, wo es aber immerhin noch Möglichkeiten gibt, während die Situation an kleineren Orten mit weniger Mitteln noch viel dramatischer ist.
O&T: Kunst und Kultur geraten immer stärker unter Druck. Die Finanzierung durch öffentliche Haushalte wird verknappt oder überhaupt in Frage gestellt. Wie rechtfertigen Sie die gesellschaftliche Notwenigkeit freiberuflicher Szenen von Musik, Tanz, Theater?
Hertling: Da gibt es die viel größere Möglichkeit, schneller und intensiver auf neue Entwicklungen zu reagieren, weil man nicht jahrelange Verträge und Festlegungen mit gleichen Künstlern hat, sondern schnell auswählen kann, neue Kooperationen eingehen und neue Projekte aufgreifen kann. Man kann auf künstlerische Art sehr viel flexibler auf Politik reagieren. Es hat sich deswegen in unserer Gesellschaft weitgehend auch durchgesetzt, dass es neben den großen und kleinen festen Häusern die Chance gibt, dass nicht-institutionalisierte Gruppen auf aktuelle Entwicklungen inhaltlich und zeitlich flexibel reagieren.
O&T: Eben das konnten Sie ja dann als Intendantin des Hebbel-Theaters realisieren. Was macht dieses Theater so besonders?
![Plakat Plakat](/archiv/2025/01/grafik/z_ot_2025_01_Seite_10_Bild_0001.jpg)
Plakat
Hertling: Das Haus wurde 1907 als ein wunderbares Beispiel für Jugendstil-Architektur durch einen Privatmann errichtet. Nach dem Krieg wurde es bedeutsam, weil es das einzige Theater in Berlin war, das zwar leicht beschädigt, aber sehr schnell wieder bespielbar war. Hier hat das Berliner Musik- und Theaterleben wieder begonnen. Als die Stadt dann mit nur eineinhalb Jahren Vorlauf zur Kulturstadt Europas 1988 gewählt wurde, gab man uns als Vorbereitungsteam diesen Ort, wo wir Büros und Tagungsräume hatten, aber auch direkt Projekte realisieren konnten, die eine Bühne brauchten. Dank meiner internationalen Kulturkontakte aus der Akademie konnten wir ein Team mit anderen Theatern in Brüssel, Amsterdam, Salzburg bilden, mit denen wir kooperativ und koproduzierend Projekte umsetzen konnten, die ein Haus allein gar nicht geschafft hätte. Das gab es bis dahin in Deutschland noch gar nicht, ausgenommen das TAT (Theater am Turm) in Frankfurt. Und weil wir damit so erfolgreich waren, haben wir nach dem Kulturjahr den Senat bekniet, das Hebbel als internationales Produzenten- und Präsentationshaus zu erhalten.
O&T: Ein festes Haus ohne festes Ensemble, an dem Verschiedenes stattfinden kann, wäre das auch ein Modell für andere Städte?
Hertling: Inzwischen gibt es in Deutschland eine ganze Reihe von Produzentenhäusern, in Frankfurt früher das TAT, heute der Mousonturm, oder Kampnagel in Hamburg. Und es werden mehr, weil das eine Struktur ist, die vieles ermöglicht und für die sogenannten Freien eine gute Basis sein kann, Arbeiten umzusetzen, für die sie sonst keine Partner hätten. Und auch für die großen Häuser ist das interessant, weil sie hier andere Künstler und anderes Publikum erreichen und in ihre programmatischen Systeme integrieren können. Ich halte das für ein sehr gutes Modell.
O&T: Die Arbeit von Freiberuflern hat neben dem künstlerischen auch einen sozialen Aspekt, denn auch diese arbeiten professionell und müssen von ihrer Arbeit leben können. Das heißt, auch sie brauchen eine gewisse Kontinuität, kein festes Anstellungsverhältnis, aber eine feste Auftragssituation. Verantwortlichen Politikern muss man klar machen, dass in diesem Bereich 30 Prozent Mittelkürzungen unter Umständen 100 Prozent Kürzungen bedeuten, weil diese Menschen dann ihre Arbeit nicht mehr machen können.
Hertling: Das ist ein ganz entscheidendes Argument. In Berlin jagt gerade eine Debatte die nächste. Dabei müssen wir aufpassen, dass es kein Konkurrenzverhältnis zwischen den verschiedenen Strukturen gibt. Und wir versuchen in der Tanzszene klarzumachen, dass wir nur dann eine Chance haben, wenn wir gemeinsam in die Debatte mit der Politik gehen und nicht die Kleinen gegen die Großen und umgekehrt ausspielen.
O&T: Sie blicken im Bereich Kunst und Kultur auf eine beeindruckend lange Tätigkeit zurück. Wie hat sich Ihrer Einschätzung nach die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz von Kunst und Kultur in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Hertling: Aus historischen Gründen hat sich in Deutschland ein Netz von Theatern quer durch die ganze Republik entwickelt. Im Ausland beneidet man uns wegen der Vielzahl an Stadttheatern und der Kontinuität der Programmarbeit, die hier geleistet wird und die Präsenz vor Ort für das Publikum. Als Schülerin in Rostock war ich selbstverständlich häufig im Theater, auch mit meinen Klassen. Da wurde man von Anfang an einbezogen, und das hat wesentlich zur Publikumsbildung beigetragen. An der Akademie der Künste wurde versucht, an die Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst vor Faschismus und Krieg anzuknüpfen, auch Rückkehrer aus der Emigration wieder heranzuholen. Dafür ein neues Publikum zu gewinnen war ein notweniger Prozess, die urbane Gesellschaft war im Umbruch. Dafür gab es dann vielfältige Vermittlungsprojekte, Türöffner, Gespräche, Probenbesuche. Die Kunst hat jedoch auch Formen entwickelt, die vom Publikum nicht so leicht zu akzeptieren waren, etwa wenn etwa im Tanz oft mehr gesprochen als getanzt wurde, um sich an aktuellen Debatten zu beteiligen.
O&T: Letztlich sind alle aktuellen Kürzungsdebatten eine Folge des schwindenden gesellschaftlichen Rückhalts von Kunst und Kultur in Bildung, Schule, Politik, Rundfunkanstalten, Medien, wo Entscheider nicht mehr für Kultur einstehen wie noch vor 30 oder 50 Jahren. Wann und wo hat diese Erosion begonnen?
Hertling: Kulturelle Bildung ist über viele Jahre zu kurz gekommen, Kunst- und Musikunterricht gab es in manchen Schulstufen nicht mehr, selbst der Deutschunterricht wurde beschnitten, und zwar in der Breite des deutschen Bildungssystems. Da hat sich ein Defizit verfestigt. Ich war viel in Frankreich unterwegs, und bei der Premiere einer Oper oder eines Theaterstücks war dort selbstverständlich immer der Bürgermeister oder ein Politiker zugegen und hat vielleicht sogar ein paar anerkennende Worte gesagt. In Deutschland ist das eine seltene Ausnahme. In Berlin klagen wir im Moment darüber, einen Kultursenator zu haben, der in der gesamten Breite von kultureller und künstlerischer Existenz nicht wirklich zu Hause ist. Auch im sogenannten Kulturausschuss gibt es nur wenig tieferes Verständnis für Werte und Bedingungen von Kunst und Kultur. Vertreter der Berliner Kulturszene wurden zu Gesprächen über Kürzungsmöglichkeiten nicht eingeladen, weder Institutionen noch Freie. Die Notwendigkeit einer partnerschaftlichen Auseinandersetzung von Politik und Kulturschaffenden ist gar nicht erst ins Bewusstsein gedrungen, weil die Politik die Kultur nicht ernst genommen hat.
O&T: In einer Demokratie repräsentiert die Politik die Gesellschaft. Daher ist es auch die gesellschaftliche Entwicklung, die dazu führt, dass die Politik Leute zu Kulturdezernenten macht, die von Kultur eigentlich keine Ahnung haben. Wie können wir uns dieser Entwicklung in allen Bereichen der Kunst entgegenstellen und vielleicht sagen, Kunst und Kultur machen die Gesellschaft reicher, flexibler, zukunftsfähiger?
![Gerhard Bohner. Foto Gert Weigelt Gerhard Bohner. Foto Gert Weigelt](/archiv/2025/01/grafik/z_ot_2025_01_Seite_11_Bild_0001.jpg)
Gerhard Bohner. Foto Gert Weigelt
Hertling: Das Versagen der Bildungspolitik habe ich schon erwähnt. Hinzu kommen die Medien. Es gibt viele gute Projekte und Initiativen, über die nur wenig berichtet wird, weil die Medien mehr auf Sensationen und Negativmeldungen setzen Umso mehr ist die Öffentlichkeitsarbeit der Theater gefragt, die vielen tollen Jugendprogramme, die es gibt, besser bekannt zu machen, bei denen über die Jugendlichen dann auch wieder die Eltern und Erwachsenen erreicht werden können. Das alles gibt es, ist aber noch viel zu wenig im Bewusstsein der politischen Öffentlichkeit, die das natürlich stützen und finanzieren muss.
O&T: Spardebatten haben wir gerade überall, auch in kleinen Kommunen. Und überall fehlt Kulturpolitikern der Mut, sich zum Wert kultureller Einrichtungen zu bekennen. Statt nachhaltige Förderungen zu schaffen, gibt es nur kurzfristiges Denken in Wahlperioden.
Hertling: Auf vielen Entscheidungsebenen wird Kunst nicht mehr entschieden vertreten, weil es in Schule und darüber hinaus keine tiefergehende Berührung und Auseinandersetzung mehr mit Kunst, Musik, Tanz, Theater gibt. Politiker sehen sich dann gezwungen, über etwas zu sprechen, von dem sie kaum Ahnung haben.
O&T: Sie sind bis heute Direktorin der Sektion Darstellende Kunst. Sprechen Sie auch in dieser Funktion mit dem Berliner Kultursenator Joe Chialo?
Hertling: Weniger, weil die Akademie seit vielen Jahren eine Bundesinstitution ist, sondern mehr als Teil der Berliner Theater- und Tanzszene und als langjährig erfahrene Person in diesem Umfeld mit verschiedenen Initiativen und Gruppierungen und einer gewissen Verpflichtung, meinen möglichen Kontakt zu Senator Chialo im Sinne dieser Partner zu nutzen.
O&T: Idealerweise spricht und wirbt Kunst für sich selbst. Können Sie exemplarisch eine persönliche Begegnung mit einem kunstschaffenden Menschen oder einem bestimmten Projekt nennen, das sie besonders beeindruckt hat?
Hertling: Bei allem, woran ich dramaturgisch beteiligt war, ging es letztlich darum, eine bestimmte künstlerische Idee so klar wie möglich umzusetzen. Nennen könnte ich den Choreografen Gerhard Bohner, der eine ganz eigenständige und radikale Entwicklung in seinen tänzerischen und choreografischen Arbeiten nahm und es daher sehr schwer hatte. An der Akademie und später am Hebbel-Theater haben wir alles daran gesetzt und auch internationale Partner dafür gefunden, seine Projekte zu realisieren, weil alle die unglaubliche künstlerische Energie und Notwendigkeit gespürt haben. Es war schwierig und anstrengend, hat aber zu Ergebnissen geführt, die auch rückblickend immer noch bedeutsam und wichtig sind. Solche Bespiele gibt es hunderte.
O&T: Gegenwärtig ist an einigen Theatern das Verhältnis von Intendanz und Ensembles angespannt oder gar zerrissen. Ist die Arbeit an Theatern konfliktreicher geworden?
Hertling: Konflikte gab es immer, sie laufen heute nur unter verschiedenen Überschriften und viel öffentlicher ab, etwa „#MeToo“ oder „Pro Palästina“. Die Machtposition von Intendanzen gegenüber Ensembles gab es immer. Ich hatte am Hebbel-Theater ein kleines Team mit nur sechs oder sieben Leuten, die später dann auch an große Häuser gegangen sind, und alle betonten, dass es ein konfliktfreies Arbeiten wie am Hebbel für sie nie wieder gegeben hat. Konfliktpoten-zial ist im System einfach enthalten. Die Betonung allgemein gesellschaftlicher Konfliktthemen hat aber deutlich zugenommen und macht die Arbeit brisanter und schwieriger.
O&T: Zugleich hat es eine Emanzipation der Künstlerinnen und Künstler gegeben, die sich heute viel eher zu Wort melden als früher, was gut ist.
Hertling: Ja, es ist eine positive Entwicklung, dass sich Künstler getrauen, gemeinsam gegen falsche Entscheidungen vorzugehen.
O&T: Ist das Modell der Intendanz für ein stehendes Theater noch zeitgemäß oder sollte man das weiterentwickeln oder ganz abschaffen?
Hertling: Abschaffen geht meiner Meinung nach nicht. Es braucht eine Position, die nicht nur einzelne Projekte realisiert, sondern auch langfristige Prozesse gestaltet und finanzielle, künstlerische und manchmal schwierige Entscheidungen auch wirklich verantwortet, wie immer man das dann nennt und diese Zuständigkeit bestimmt. Das können künstlerische Personen sein oder Verwaltungspositionen, einzelne Person oder auch Teams.
O&T: Die Häuser und ihr Umfeld in verschiedenen Städten sind sehr verschieden. Müsste bei den Ausschreibungsprofilen für Intendanzen mehr auf die Verantwortung für Teilhabe, Durchlässigkeit, Integration der Stadtgesellschaft, Öffnung für freie Szenen geachtet werden?
Hertling: Das finde ich absolut notwendig, denn nur so können sich Konflikte lösen lassen. Und auch der Publikumszuspruch ist natürlich durch interne Entscheidungen betroffen. Ein Haus auf verschiede Weise für die Stadtgesellschaft attraktiv zu machen, muss bei der Findung der Leitung eines Hauses unbedingt benannt werden.
O&T: Eine positive Entwicklung ist immerhin auch, dass es heute selbstverständlich auch Intendantinnen gibt, was zu Ihrer Zeit noch etwas Besonderes war.
Hertling: Über meine Rolle als Frau wurde ich schon öfter befragt, aber ich habe das damals gar nicht als ein Thema wahrgenommen. Ich war zwar die einzige Intendantin in Berlin, aber ich hatte mit der Leitung des Hauses so viel zu tun, dass ich darüber gar nicht nachgedacht habe.
O&T: Wir führen dieses Gespräch kurz vor Weihnachten. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie der deutschen Theaterlandschaft wünschen?
Hertling: Ich würde ihr wünschen, dass nicht nur über politisch verordnete Geldprobleme geredet wird, sondern wir Häuser, Orte und Ländergrenzen übergreifend wieder stärker in einen Dialog kommen über die Notwendigkeit künstlerischer Entwicklung und die Präsenz von Kunst als kreativer Kraft im Bewusst-sein von Politik und Gesellschaft.
O&T: Möge dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Herzlichen Dank für dieses Gespräch.
|