Berichte
Der Kreis der Wahrheit
Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf glänzt mit Alexander Zemlinskys „Der Kreidekreis“
Für Alexander Zemlinskys (1871–1942) Oper „Der Kreidekreis“ hat David Bösch einen angemessen klugen Rahmen für eine exzellente Ensembleleistung geschaffen. Die Musik zu dieser Melange aus Lehrstück, Parlando-Oper und großem Format verleugnet weder den Zeitgeist noch spätromantische Reminiszenzen und besteht gleichwohl auf ihrer Eigenständigkeit. Vor allem die Zeitgenossenschaft mit Kurt Weill und Richard Strauss ist nicht zu überhören. Dass die Oper 1933 nur noch in Zürich uraufgeführt werden konnte, ist symptomatisch für das Schicksal der von den Nazis verfemten und vertriebenen jüdischen Komponisten und ihrer Werke.
![Deutsche Oper am Rhein, „Der Kreidekreis“, Lavinia Dames, Sarah Ferede, Jorge Espino. Foto: Sandra Then Deutsche Oper am Rhein, „Der Kreidekreis“, Lavinia Dames, Sarah Ferede, Jorge Espino. Foto: Sandra Then](/archiv/2025/01/grafik/z_ot_2025_01_Seite_28_Bild_0001.jpg)
Deutsche Oper am Rhein, „Der Kreidekreis“, Lavinia Dames, Sarah Ferede, Jorge Espino. Foto: Sandra Then
Zemlinskys Werk geht auf Klabunds Märchenspiel aus dem Jahre 1925 zurück, nicht auf Brechts 20 Jahre später entstandenen „Kaukasischen Kreidekreis“. Dort gibt es beim Streit der echten und der falschen Mutter um ein Kind nicht nur die Variante des salomonischen Tricks, bei dem sich diejenige Frau als die wahre Mutter erweist, die nicht bis über die Schmerzgrenze an dem Kind zerrt, um es aus dem Kreidekreis zu sich zu ziehen, sondern die es aus Rücksicht lieber loslässt. Bei Klabund ist das die verleumdete leibliche Mutter, bei Brecht die das Kind liebende Grusche, die sich als die wahre Mutter erweist beziehungsweise von einem weisen Richter dazu erklärt wird.
Bei Klabund und Zemlinsky verblüfft nach dem Richterspruch noch ein tatsächlich märchenhaftes Happy End. Hier erweist sich nämlich der zum Kaiser aufgestiegene Prinz Pao, der Haitang einst begehrt und an den reichen Mandarin Ma verloren hatte, selbst als der Vater des Kindes, um das jetzt gestritten wird. Als Kaiser verhilft er der Gerechtigkeit zum Durchbruch, indem er ein auf Bestechung beruhendes Fehlurteil korrigiert. Danach stellt sich heraus, dass es eben kein Traum von Haitang war, dass jener Fremde, der damals in der Nacht zu ihr kam und mit ihr schlief, der damalige Prinz und heutige Kaiser war. Was heutzutage bei einem Schauprozess mit der Verurteilung des Beischläfers enden würde, wird im Stück verziehen. Der zum Kaiser aufgestiegene Vater erkennt sein Kind an, und die Mutter wird Kaiserin. Dieses Schlussbild freilich kann der Regisseur nur brechen, indem er der Frau nicht nur das Entsetzen über ihren Irrtum über ihren vermeintlichen Traum ins Gesicht schreibt, sondern das glücklich vereinte Paar in unterschiedliche Richtungen abgehen lässt.
Auch davor nehmen Bösch, Patrick Bannwart (Bühne und Video) und Falko Herold (Kostüme) eine Haltung zur Vorlage ein, als würden sie nicht nur Zemlinsky und Klabund, sondern auch gleich noch Brecht inszenieren. Die Bühne kommt mit wenigen kindlich hingekritzelten Kreidezeichnungs-Videos und knappen Interieurs aus, betont also Distanz durch die verfremdete Erklärungsgeste, um Nachdenken zu provozieren. Dadurch gewinnt die Musik auch da ihren eigenständigen Reiz, wo sie dezidiert dem Wort folgt, um dann freilich im instrumentalen Oszillieren und atmosphärischen Leuchten für sich ein „prima la musica“ zu behaupten. Das Schlussduett von Kaiser und künftiger Kaiserin hebt dann in ein „Frau ohne Schatten“-Pathos oder zu „Turandot“-Exotik ab. Nach dem Beginn im Freudenhaus mit goldenen Käfigen für die Blumenmädchen unter Obhut eines geschäftstüchtigen Eunuchen ist das eine beachtliche Spannbreite!
Das Protagonistenensemble glänzt allesamt. Vor allem Lavinia Dames als Tschang-Haitang und die mezzopräsente Sarah Ferede als Hauptfrau Yü-Pei des Steuereintreibers Ma. Joachim Goltz entwickelt den skrupellosen Steuereintreiber glaubhaft zum liebenden Mann. Romana Noack macht aus der kleinen Rolle der Hebamme ein eindrucksvolles Porträt. Wunderbar fügt sich Schauspieler Werner Wölbern als korrupter Oberrichter ins singende Ensemble. Richard Šveda verleiht dem Bruder Haitangs geballte vokale und szenische Präsenz. Matthias Koziorowski überzeugt mit seiner markanten Strahlkraft als liebender, aber auch gewaltbereiter Prinz und dann als Kaiser von China. Dirigent Hendrik Vestmann steuert die Düsseldorfer Symphoniker im Graben sicher durch jeden Wechsel der musikalischen Stimmungen. Am Ende gibt es selbst noch in der vorletzten Vorstellung stehende Ovationen im ausverkauften Haus. Der Deutschen Oper am Rhein ist ein Coup gelungen!
Joachim Lange
|