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Hintergrund
Statt Asche bewahren Glut entfalten
Pina Bauschs „Kontakthof“ überwältigt – und Neues entsteht
Von Beatrix Leser und Wolf-Dieter Peter
„Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ Der Spruch wird in Variationen vielen Denkern zugeschrieben, von Thomas Morus über Benjamin Franklin bis Jean Jaurès. Die Worte kommen Tanztheaterfreunden in Wuppertal – neben „genius loci“ – in den Sinn, in der Stadt in NRW, die sich Pina Bausch 1979 zum Lebens- und Schaffenszentrum gewählt hat. Nach vorangegangenen Wiedereinstudierungen lockte nun mit „Kontakthof“ ein weiteres ihrer zentralen Tanztheater-Werke an die Wupper. Dazu stellte sich prompt ein weiteres Zitat ein, von Jacques Derrida: „Man erbt immer ein Geheimnis – ‚Lies mich!‘, sagt es. Wirst du jemals dazu imstande sein?“ Vielfältiges „Lesen“ war nötig, denn Pina Bausch hat das Stück vom Dezember 1978 – jeweils mit fast einem Jahr Proben – auch im Jahr 2000 für „Damen und Herren über 65“ sowie abermals 2008 für „Jugendliche ab 14 Jahren“ einstudiert (alles auf DVD greifbar). Jetzt wirkten fünf Solisten aus diesen früheren Einstudierungen mit, und sowohl die Premiere als auch die Zweitaufführung wurden bis in die Ränge des Opernhauses hinauf mit Jubel und Standing Ovations gefeiert.
Direkt in die Gegenwart

„Kontakthof“, vermutlich bei der Generalprobe 1978. Foto: Ulli Weiss/Pina Bausch Foundation
Jeder Mensch drückt sich dauernd aus, einfach indem er ist. Wenn man dies „liest“, ist alles sichtbar: vom Kindergarten über Schulhof, Spielplatz, Tanzstunde, Verein, Ballsaal, Club, Meeting, gipfelnd in Präsentation, Vorführung oder Modenschau und natürlich im Theaterauftritt, vom Posing in (a-)sozialen Medien zu schweigen. 1978 und später hat Pina Bausch all dies noch ohne unsere digitale Dating-Welt „gelesen“ und dann geformt: die schier unsterbliche Spirale aus Hoffnungen und Sehnsüchten, Attitüden und Zusammenbrüchen, Allein- und Geborgensein, Auftrumpfen und Scheitern, Glück und Verzweiflung. Im unveränderten weißen Ball- oder Theatersaal von Bühnenbildner Rolf Borzik sitzen abermals auf schwarzen Stühlen 20 Menschen. Dann kommt die wunderbar gereifte Julie Shanahan nach vorne und wird so etwas wie das visuell reizvolle Nervenrückgrat, von dem und um das sich viele Erzählepisoden entwickeln. Zunächst führt sie erste Attitüden des „Sich-Präsentierens“ vor: Haare, Zähne, Hände, Haltung. Ihrem Vorbild folgen weitere „Ladies“ unterschiedlichen Alters und internationaler Herkunft. Im Abgehen blickt die gertenschlanke Claudia Ortiz Arraiza süß herausfordernd über die Schulter und bekennt, dass sie aus Paris kommt. Ihre kleine, figürlich frauliche Kollegin setzt dagegen, dass sie aus Hamburg stammt und verheiratet ist. Dann präsentieren sich die Männer. Und als die ganze Truppe schließlich im gleichen Winkelschritt von hinten antanzt, ist nicht nur Perfektion, sondern auch die Uniformität all unseres vermeintlich differenzierten Verhaltens zu erleben.

„Kontakthof“ 2024 mit Julie Shanahan und Andrey Berezin. Foto: Laszlo Szito
Was dann über gut hundert Minuten im ersten Teil und dann noch eine kurze Stunde nach der Pause folgt, sprengt jede kritisch-analytische Darstellung durch eine fast erschlagende Fülle an Nuancen von mal mehrfach insistierend gleichen, mal differenzierenden Wiederholungen und einer immer und immer wieder bezaubernden Bewegungs-Tanz-Expression jedes der 21 Menschen auf der Bühne. Das liegt sowohl am dominierenden Tango-Rhythmus als auch an der herrlichen Schmäh-Musik aus den 1930er-Jahren, wenn mit leisem Schellack-Kratzen Rudi Schuricke von „Frühling und Sonnenschein“, Leo Monosson „Ich bin nicht der Erste… aber dein Letzter könnte ich sein“ oder Kurt Hardt von „Rosengarten“ singen. Dazu blüht mal die kleine Einsamkeit wie das kleine Glück in intimen Einzelheiten. Dann donnert plötzlich der wilde „J.D.’s Boogie-Woogie“ los. Die Männer sitzen wie in der ersten Tanzstunde links, die Mädchen stehen rechts aufgereiht. Und mit wild begehrendem Händeflattern rutschen die Mannsbilder auf die sich sowohl begehrlich wie ängstlich räkelnden Mädels zu – eher eine Horrorkabinettszene. Einen reizvollen Kontrast bilden durchweg die wehenden und geschleuderten Haarmähnen, so schön verschieden wie die anmutigen Damen im weiten Raum und auch ganz vorne an der Rampe. Viel später erstarren die Männer mit verschiedensten, hohlen Umarmungsgesten, in die sich die Frauen in rasanten Wechseln einfügen, kurz oder länger verweilen, und wieder davoneilen.

„Kontakthof“ 2024 mit Maria Giovanna Delle Donne und Ensemble. Foto: Laszlo Szito
Durch den ganzen Fluss an rasanten „Shortcuts“ zieht sich langsam die Entwicklung, dass viele kleine Gesten erst hart, dann kantig, schließlich aggressiv und verletzend ausarten und der weibliche Körper vom Objekt zum Opfer wird. Kontrastierend tanzen wiederholt Julie Shanahan und die mediterran schöne Maria Giovanna Delle Donne als zwei schleierumspielte Blumenmädchen geziert und gestylt durch den Raum – und alle Film-Erinnerungen an die formidablen Ziegfeld-Follies scheinen ad absurdum „gehopst“, von Wagners „Blumenmädchen“ zu schweigen. Doch das Solo „Sag mir, wieviel Sternlein stehen“ und der Chor „My Bonnie lies over the Ocean“ können weder die Ohnmachten noch eine Selbstmord-Vorführung noch die zunehmende Gewalt und die immer wieder herumliegenden Frauenkörper verdrängen. Plötzlich schießt dem mitdenkend-empathischen Zuschauer die aktuelle Zahl von über 350 Femiziden durch den Kopf, die jährlich in Deutschland stattfinden, und das „alte“ Tanztheater reicht direkt in die Gegenwart. Zu erleben ist ein schön erschreckender, künstlerisch messerscharf sezierender Abend mit „Pina von 1978“, überwältigend gipfelnd in „zukunftsoffener Zeitgenossenschaft“. In der Vorbereitung der Wiederaufnahme wurden die noch lebenden Uraufführungstänzer:innen kontaktiert. Neun von ihnen hatten Zeit, fühlten sich körperlich fit, reisten an und probten so beeindruckend, dass daraus „Kontakthof – Echoes of 78“ entstand – sie tanzten, betreut von einer der Uraufführungsprotagonistinnen, der inzwischen 75-jährigen Meryl Tankard vor Videoausschnitten von 1978 auf den Bühnenwänden eine Kurzfassung. So entstand eine abstrakte, aber künstlerische Begegnung mit den nicht mehr lebenden Kolleg:innen von einst und eine neue Art Expression des verinnerlichten „Kontaktierens“. Dem Vernehmen nach mischten sich tänzerische Bewunderung mit augenfeuchtem Berührtsein, so dass erste Tournee-Stationen festsehen: Londons Sadler’s Wells, La Hague, St. Pölten, Lugano, Shanghai und Seongnam.
Der neue Leiter Boris Charmatz
Die hinreißende Wiederbelebung kann jedoch die grundlegende Frage nach dem „Wie weiter?“ nur teilweise beantworten. Eher unauffällig haben eine Findungskommission um Sohn Salomon Bausch und den Bühnenbildner Peter Pabst – langjähriger künstlerischer Partner von Pina Bausch – schon länger in der zeitgenössischen Tanz-Szene Aus- und Umschau nach einer Nachfolge für die 2009 verstorbene Leiterin des Wuppertaler Tanztheaters gehalten. Am 21. Oktober 2021 hielt dann der frisch gewählte Tänzer und Choreograph Boris Charmatz – 1973 im französischen Chambéry geboren – auf der Empore des Lichtburg-Probenstudios eine längere und teils grundlegende Rede: „Ich komme, um mit Ihnen zu tanzen und mit dieser Stadt und mit dieser Landschaft, für diese Stadt und für diese Landschaft, und wir werden alle gemeinsam mit dieser Geschichte tanzen… Aber wir werden tanzen, um Geschichte zu MACHEN, die Geschichte von heute, um die Geschichte von morgen zu entwerfen.“

Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, „Kontakthof“ 2024, Ensemble. Foto: Laszlo Szito
Bislang hat das Team um Charmatz die bei seinem Antritt schon feststehenden Programme für 2022/23 mitreißend belebt (vgl. diverse Berichte www.nmz.de). Dann folgte im Mai 2023 ein erster Akzent: Mit dem Projekt „Wundertal“ wurde eine ganze Straße der Stadt von etwa 200 Tanzenden, Profis und Laien, Studierenden, Schülerinnen und Schülern aus Wuppertal und Umgebung betanzt, um – so Charmatz’ Idee – „ein unglaublicher Kraftspender zu sein, um die Körper und die Stadt Wuppertal in Bewegung zu versetzen“. Diese Einstellung bringt Charmatz aus seinem vorherigen Wirkungsort Rennes mit, den er zu einem „Musée de la danse“ umformte. Im nordfranzösischen Raum hat er eine grüne städtische choreografische Institution, ein Kunstterrain ohne Dach und ohne Mauern, aufgebaut. Schon bei seinem Antritt dort imaginierte er „die offizielle Zusammenarbeit zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und der Haut-de-France… Ich würde die französisch-deutsche Verbindung, die europäische Dezentralisierung und Zusammenarbeit gerne vertiefen. Pina Bausch hat hier gelebt und gearbeitet, aber das Théâtre de la Ville de Paris war wie ihr zweites Zuhause…“ Das könnte eine Schiene seiner weiteren Arbeit werden. Pinas „Vollmond“ gastierte daher tatsächlich schon im Oktober 2023 im französischen Mulhouse.
Für die Neueinstudierung von „Café Müller“ (1978/2023) entwickelte Charmatz drei neue Besetzungen und erläuterte dazu: „Pina Bausch hat ,Café Müller‘ mit sechs Tänzer:innnen entwickelt, das ist eine kleine Gruppe, eine Kammerspielbesetzung. Drei mal sechs macht achtzehn. Das sind immerhin schon achtzehn junge Tänzer:innen, die das Stück für sich entdecken können. Die Kompanie als lebendiges Kollektiv ist mir genauso wichtig wie das Repertoire von Pina Bausch …“
„Ich habe ein paar Setzungen vorgenommen. Zum Beispiel nur mit Tänzer:innen zu arbeiten, die die Rolle zum ersten Mal tanzen; oder parallel drei Besetzungen zu proben; oder die Entscheidung, wer welche Rolle tanzt, insbesondere die Entscheidung, wer die Rolle von Pina Bausch tanzt. Eine der drei Interpret:innen, die Kanadierin Taylor Drury, ist sehr jung. In der Vergangenheit wurde die Rolle mit einer eher reifen Tänzerin besetzt. Oder Naomi Brito, sie ist mit 25 Jahren unsere jüngste Tänzerin und eine Transfrau. Sie kommt aus Brasilien. Emma Barrowman, ebenfalls aus Kanada, ist unsere dritte Pina Bausch. Das nur als ein Beispiel dafür, wie wir mit der Frage umgehen, wer im Jahr 2023 die ideale Pina Bausch verkörpern könnte. Es geht eben nicht nur darum, die sechs besten Tänzer:innen für ,Café Müller‘ auszusuchen, sondern gemeinsam ein Beziehungsmodell zu entwickeln.“ Da wird sichtbar, wie Charmatz aus der ererbten „Glut“ der legendären Wuppertaler Truppe neues Feuer entwickeln will. Die Neuproduktion von „Café Müller“ gastierte dann im Oktober 2023 in Istanbul.
Von Gestern in die Zukunft
Für ein neues Buch hat Charmatz ein kurzes Vorwort geschrieben, das mit einem Ausblick endet: „Wir freuen uns darauf, Ihnen zu begegnen und Sie zu entdecken, hier in Wuppertal, in Paris, in Kanada, in New York, in Montpellier, in Luxembourg, in Helsinki…“ Das ist nicht übertrieben, denn im Dezember 2024 folgte eine Einstudierung von Bauschs „Frühlingsopfer“ mit Studierenden der Taipei National University of the Arts in Zusammenarbeit mit dem Taipei Performing Arts Center, dem National Kaohsiung Center for the Arts (Wei Wu Ying) und im Januar 2025 dann mit dem National Taichung Theater und der Pina Bausch Foundation in Zusammenarbeit mit dem Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.
Die Stamm-Compagnie bringt dann im Januar 2025 „Água“ in Wuppertal zur Wiederaufführung und führt anschließend „Vollmond“ in Londons Sadler’s Wells auf. Die Neueinstudierung von „Café Müller“ reist im März 2025 ins australische Adelaide. Und dann trägt auch eine frühere Beziehung neue Blüten: Nach mehrjähriger Vorarbeit war es Bettina Wagner-Bergelt 2016 gelungen, Pinas „Stück für die Kinder von gestern, heute und morgen“ von 2002 für das Bayerische Staatsballett „frei“ zu bekommen – eine der wenigen Freigaben von Originalchoreografien an fremde Compagnien, sehr eingehend begleitet von Tänzern und Dramaturgen aus Wuppertal – und ein sensationeller Erfolg.
Nun bekommt die Münchner Ballettfestwoche im April erneut ein Highlight: Von einigen Biografen wird Pinas Deutung von Strawinskys „Frühlingsopfer“ 1975 als ihr stilistisch-interpretatorischer Durchbruch und Beginn ihrer tanzgeschichtlichen Singularität gewertet – auch das wird nun wieder zu erleben sein. |