Hintergrund
Die unsichtbare Arbeit der Ballettmeister*innen
Das unbesungene Rückgrat der Aufführung: Perspektive einer Ballettmeisterin
von Laura Graham
Nach 26 Jahren Arbeit in deutschen Theatern und 51 Jahren im Dienst unserer Kunstform habe ich tiefgreifende Veränderungen in unserem Beruf miterlebt – und doch bleibt eines konstant: Die Rolle von Ballettmeister*innen wird grundlegend missverstanden und systematisch unterbewertet.
Ob bei der Leitung von Proben in einer kleinen oder großen Kompanie – Ballettmeister*innen stehen vor ähnlichen Herausforderungen, und die Komplexität unserer Arbeit bleibt gleich. Wir sind der organisatorische Klebstoff, der das Ökosystem der Aufführung zusammenhält, wir verbinden Tänzer*innen, künstlerische Leiter*innen, technische Abteilungen und Gastchoreograf*innen. Der Großteil unserer Aufgaben ist nicht künstlerisch, aber man benötigt umfassende künstlerische Erfahrung, um diese Arbeit zu leisten.
Unsere Arbeit geht weit über die Choreografie-Vermittlung hinaus. Eine typische Saison erfordert die Betreuung von Tänzer*innen über mehrere Programme mit unterschiedlichsten Tanzstilen, was außergewöhnliche logistische und künstlerische Präzision verlangt. Wir verbringen oft unzählige Stunden mit Dokumentation, Aufnahmen, Transkriptionen und Archivierung außerhalb unserer regulären Arbeitszeiten – alles Fähigkeiten, die in traditionellen Performance-Narrativen selten Anerkennung finden. Eine einzige Probe kann drei Stunden potenzieller Arbeit in einer Stunde komprimieren, denn sie erfordert hocheffiziente Planung bei gleichzeitig nahezu übernatürlicher Fähigkeit, künstlerische Visionen in feinsten Nuancen zu kommunizieren.
In realen Zahlen bedeutet dies Vorbereitungszeiten von zwei bis drei Stunden täglich, die sich bei der Erarbeitung neuer Ballette auf sieben Stunden und mehr ausweiten können. Dies versteht sich selbstverständlich zusätzlich zur 44-Stunden-6-Tage-Woche der Probenpläne. Das bedeutet eine wöchentliche Mindestarbeitszeit von 58 bis 65 Stunden.
Die verborgenen Herausforderungen
Unsere Profession birgt eine schmerzhafte, oft unausgesprochene Realität. Viele Ballettmeister*innen erleben mangelnden Respekt – außerdem Erfahrungen von Ausbeutung, emotionaler Manipulation, Burnout und manchmal offener Diskriminierung. Viele Profis fühlen sich nicht in der Lage, aus Angst vor beruflichen Konsequenzen darüber zu sprechen.
Am wenigsten anerkannt ist die emotionale Arbeit. Wir sind Vertraute, Mentor*innen und psychologische Unterstützungssysteme für Tänzer*innen, die intensiven beruflichen Druck bewältigen müssen. Unsere Rolle erfordert nicht nur technische Meisterschaft, sondern tiefes Einfühlungsvermögen und zwischenmenschliche Intelligenz.
Die organisatorischen Dynamiken deutscher Theaterstrukturen präsentieren besonders komplexe Herausforderungen für Ballettmeister*innen. Trotz ihrer Bedeutung für künstlerische Produktionen sind Ballettmeister*innen oft institutionell marginalisiert. Sie tragen viele Hüte, mit unzureichender Interessenvertretung und zu wenig struktureller Unterstützung. Und dies ist nur die Spitze des Eisbergs.
Ein Aufruf an die Gemeinschaft
An meine Ballettmeister-Kolleg*innen: Ihr seid nicht allein! Eure Erfahrungen, Herausforderungen und Erkenntnisse sind von tiefgreifender Bedeutung. Dieser Artikel ist eine Einladung, ein sicherer Raum zum Teilen, Verbinden und zum gemeinsamen Beleuchten unserer zentralen Rolle in den darstellenden Künsten.
Wenn Ihr an diesem Dialog teilhaben wollt, Eure Geschichte teilen oder Unterstützung finden möchtet, kontaktiert uns bitte per E-Mail unter joerg.loewer@vdoper.de. Unsere Stärke liegt in unserer Solidarität, in unserer gemeinsamen Leidenschaft und in unserem unerschütterlichen Engagement für die Kunstform, die wir lieben. Ich würde gerne mehr darüber sprechen. |