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Berichte
Globales Panoptikum
Die Ausstellung TANZWELTEN der Bundeskunsthalle Bonn
Musik und Tanz auszustellen, ist eine Herausforderung, weil sich diese Darstellenden Künste in Zeit und Raum entfalten und schlecht in Vitrinen und Bilderrahmen passen. Im Vergleich zur hörbaren Musik bietet der Tanz immerhin primär Sichtbares, das sich zeigen lässt, sei es in Gestalt von Skizzen, Schrittfolgen, Figurinen, Kostümen, Gemälden, Fotografien oder Videos. Die von Katharina Chrubasik, Claudia Jeschke und Daniela Ebert für die Bundeskunsthalle Bonn kuratierte Ausstellung LET’S DANCE! – TANZWELTEN präsentiert noch bis zum 16. Februar das Tanzen als Darstellungs- und Ausdrucksform in globaler Perspektive während zweitausend Jahren. Es geht um den Tanz als autonome Kunstform sowie um dessen vielfältige Verflechtungen mit religiösen und sozialen Funktionen, Zeremonien, Festen und Alltag.
![„Soul Train“-Line Show, USA, April 1975. Foto Michael Ochs, Archives, Getty Images/TANZWELTEN Bundeskunsthalle Bonn „Soul Train“-Line Show, USA, April 1975. Foto Michael Ochs, Archives, Getty Images/TANZWELTEN Bundeskunsthalle Bonn](/archiv/2025/01/grafik/z_ot_2025_01_Seite_30_Bild_0001.jpg)
„Soul Train“-Line Show, USA, April 1975. Foto Michael Ochs, Archives, Getty Images/TANZWELTEN Bundeskunsthalle Bonn
Allein, der Tanz in Europa ist ein verzweigtes Feld. Als Teil der höfischen Festkultur entstanden Ende des 16. Jahrhunderts Tänze wie Menuett, Gavotte oder Sarabande sowie das Ballett. Der Spitzentanz der klassischen Handlungsballette des 19. Jahrhunderts wurde zum Inbegriff körperlicher Schönheit und Schwerelosigkeit. Dank Leihgaben von John Neumeier, der als Hamburger Chefchoreograf 2000 die Hommage „Nijinski“ herausbrachte, sieht man Modellbühnen, Kostüme, Plastiken, Fotografien und Zeichnungen des Ballet Russes und Vaslav Nijinski – nicht zuletzt von der Privataufführung von Strawinskys „Petruschka“ 1919 in St. Moritz, bei welcher der legendäre Tänzer einen schizophrenen Schub erlitt, der seine Karriere beendete. Weitere Ausprägungen von Tanztheater, Ausdruckstanz, Nackttanz seit den 1920er-Jahren stammen von Isidora Duncan, Vasleka Gert, Josephine Baker, Anita Berber, Merce Cunningham, Pina Bausch, Alain Platel, Rosa Frank und Raimund Hoghe bis hin zur Dekonstruktion klassischer Bewegungsformen unter Einbeziehung neuer Medien bei William Forsythe und Anne Teresa De Keersmaeker. Die weltweite Perspektive eröffnet ein faszinierendes Panoptikum des Tanzens. Gezeigt werden das altjapanische rituelle Nō - und unterhaltende Kabuki-Theater des 14. bzw. 17. Jahrhunderts, balinesischer Legong, thailändisches Khon und der kosmische Tanz des hinduistischen Gottes Shiva, der das Schaffen, Zerstören und Wiederaufbauen des Universums verkörpert. Bei den Bwaba in Burkina Faso symbolisieren Ganzkörpermasken sowohl Tiere als auch religiöse und soziale Gesetze. Die Gouro an der Elfenbeinküste schlichten soziale Konflikte durch Tänze, die von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt wurden. Den afrodiasporischen Bevölkerungen in Süd-, Latein- und Nordamerika verdanken wir die modernen Gesellschaftstänze Tango, Foxtrott, Samba, Rumba und Salsa. In den USA entstanden Hip Hop und House aus Protest gegen Rassismus und Armut. Mit Voguing und Ballroom kreierten afro- und lateinamerikanische LGBTQIA+-Communities eigene Formen der empowernden Selbstinszenierung. Tanz vermittelt Wissen, dient der Kommunikation, festigt soziale Konventionen, befreit von gesellschaftlichen Normen, stiftet Identität und Gemeinschaft, macht Freude und Lust. Tanz führt auch zu Ekstase und Trancezuständen, etwa bei den antiken Mysterien zu Ehren von Dionysos, den tanzenden Derwischen im muslimischen Sufismus oder durch exzessives Head-Banging bei Rock- und Punkkonzerten. Zuweilen tanzen auch Fußballer, wenn sie ein Tor geschossen haben, oder Spielfiguren im Ego-Shooter-Game „Fortnite“, die soeben einen Gegner erlegt haben. Die Spielarten des Tanzens sind ebenso verschieden wie die Situationen und Konstellationen: Man tanzt alleine oder paarweise, individuell oder koordiniert als Gruppe, ruhig oder wild, mit oder ohne Kostüm, Schleier, Fahnen, Säbeln, Hüten, Seilen, Stangen, mit welcher Bewegung, Gestik, Mimik, Bedeutung und zu welcher Musik auch immer. Nach zwei Stunden Stehen, Schauen, Lesen vor hunderten Exponaten und dutzenden Videos sehen die Besuchenden schließlich im letzten Ausstellungsraum unter lauter Musik völlig unterschiedlich tanzende Menschen auf großformatigen Videos – und unwillkürlich springt die Lust über, selber zu tanzen.
Rainer Nonnenmann
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