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Märchenhaftes Spektakel
am Sund
»Der Zauberer von Oz« bei den Ostseefestspielen in Stralsund
Oz ist überall, auch in Stralsund. Ein Zauberland, in dem alle Sorgen dahin schmelzen wie Schokolade in der Sonne. Für die verträumte Dorothy – die gerade sehr große Sorgen hat – ein Zufluchtsort. Vor garstigen Mitmenschen, scheinbar uninteressierten Freunden und Verwandten, dem tristen Alltag in der Steppe von Kansas, ja, sogar vor sich selbst. Doch auch in dem zauberhaft bunten Land mit seinen vielen großen und kleinen Wundern muss Dorothy bald die Erfahrung machen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Mit ihrem Hündchen Toto, einer Vogelscheuche, dem eisernen Holzfäller und dem feigen Löwen macht sich das Mädchen auf den Weg zum großen Zauberer von Oz, der dem Quintett die sehnlichsten Wünsche erfüllen soll: einen messerscharfen Verstand, ein mitfühlendes Herz, jede Menge Courage und die Rückkehr in die Heimat. Bis alles gut ausgeht, vergehen vergnügliche zwei Stunden mit einer im Wortsinne kunterbunten Geschichte, viel Charme, Witz, mitreißenden Liedern, originellen Ideen und liebenswerten Charakteren, großen Gefahren und noch größeren Gefühlen.
Anna Wagner als Dorothy. Foto: MuTphoto/Braun & Luesch
Im Rahmen der Ostseefestspiele brachte das Theater Vorpommern das Musical nach dem Kinderbuch des US-Amerikaners Lyman Frank Baum sowie Musik und Gesangstexten von Harold Arlen und Edgar „Yip“ Harburg auf die Bühne. Dass die Inszenierung von Jürgen Pöckel ohne große Experimente auskommt und sich stattdessen nah an der Vorlage hält, ist ein großer Pluspunkt. Nie wurde der Regenbogen schöner besungen als von Dorothy, niemand wünscht sich so rührend Verstand, Herz und Mut wie Vogelscheuche, Holzfäller und Löwe und niemand freut sich diebischer über den Tod der bösen Hexe als die putzigen Munchkins. Ihr fröhlich-lustiges „Ding dong, die Hex ist tot“ läuft dem wunderbar melancholischen „Über’m Regenbogen“ in der Gunst der Zuschauer glatt den Rang ab.
Das Philharmonische Orchester unter Leitung von Egbert Funk sowie der Opernchor (Rustam Samedov) entführen die Zuschauer so auch musikalisch in ein Wunderland. Dass die längst zu Evergreens avancierten Songs wie „Over the Rainbow“, „Ding dong the witch is dead”, „If I only had a brain“ oder „We‘re off to see the wizard” am Sund auf Deutsch gesungen werden, verwirrt nur einen Augenblick. Schnell ist man dem Zauber der alten gekonnt vorgetragenen Melodien erlegen und ertappt sich beim Mitsingen.
Trotz spärlich ausgestatteter Bühne entpuppt sich Oz – das sich infolge eines Schlages auf den Kopf als Reise in das Innerste herausstellt – dennoch als fantastische, kunterbunte und originelle Welt. Bereits in der Anfangsszene treten neben Dorothy alle wichtigen Figuren auf. Die Farmarbeiter tauchen später im Zauberland als Vogelscheuche, Blechmann, Löwe auf, die gehässige Nachbarin Miss Gulch wird für Dorothy zur bösen Hexe, Tante Em zur guten Fee und sogar der mit müden Taschenspielertricks arbeitende Professor Marvel verkörpert in der Traumwelt die Figur des Oz, der auch nichts weiter als ein kleiner Betrüger ist. Besonders zur Freude der jüngsten Zuschauer ist das Hündchen Toto in der Fassung am Sund erhalten geblieben. Als knuddeliger Stoffhund, der dank einfacher Effekte auch mal „laufen“ kann, erobert er die Herzen im Sturm.
Christina Winkel ist Miss Almira Gulch. Foto: MuTphoto/Braun & Luesch
Durch Teamwork von Regie, Kostümen und Bühnenbild (Martin Rupprecht) entstehen lebendige Bilder. Der Tornado zum Beispiel wird von umherwirbelnden Capoeira-Tänzern aus Greifswald einfach, aber effektvoll dargestellt, ebenso wie das schlafbringende Mohnfeld oder die fliegenden Affen. Anna Wagner gibt die naive und herzensgute Dorothy, überzeugt sowohl schauspielerisch als auch stimmlich und stellt auch ihr tänzerisches Geschick unter Beweis, wenn sie – wie einst Judy Garland – über die gelbe Backsteinstraße hüpft. Ihre märchenhaften neuen Freunde bestechen durch ebenso märchenhafte Kostüme. Den dankbarsten Part erwischte Johannes Richter, der die zerzauste, liebenswerte und gar nicht so dumme Vogelscheuche spielt und mit immer wieder witzig-geistreichen Sprüchen und unsicheren wackligen Bewegungen die Lacher auf seiner Seite hat und schnell zum Publikumsliebling wird. Alexandru Constantinescu überzeugt als nah am Wasser gebauter und deshalb leicht rostender blecherner Holzfäller, während Thomas Rettensteiner einen herrlich ängstlichen Löwen spielt, der seine Feigheit hinter lautem Gebrüll zu verstecken sucht.
Christina Winkel, die vor 40 Jahren ihr Debüt als Dorothy gab, darf diesmal auf die böse Seite wechseln. Ihre Miss Almira Gulch ist eine unsympathische, überhebliche Zicke, später als böse Hexe hätte sie dagegen gern noch etwas tückischer agieren können. Schauspielerisch ohne Tadel täte ihren Zornesausbrüchen, ihrer verbalen Gemeinheit, ihrem sardonischen Lachen dagegen etwas mehr Stimmgewalt gut. Die wohl schwierigsten Rollen hatten drei Damen des Opernchores des Theaters Vorpommern zu meistern. Als Apfelbäume waren Katja Böhme, Kristina Herbst und Doris Nestler zu minimalen Bewegungen verdammt und meisterten doch ihren Auftritt mit Bravour. Dass man sie in ihren wunderbaren Kostümen tatsächlich für Baumstämme mit Ästen, Blättern und Früchten halten konnte macht einmal mehr deutlich, wie liebevoll Details im „Zauberer“ umgesetzt wurden.
Der „Zauber von Oz“ ist ein Stück, das durch seine märchenhafte Handlung, seine tollen Melodien und originellen Ideen für die gesamte Familie geeignet ist. Denn ein Stück Oz ist in jedem von uns. Im Rahmen der Ostseefestspiele zeigte das Theater Vorpommern ein zweites Musical: „Die Abrafaxe und das Geheimnis der Zeitmaschine“ ist ein Stück DDR-Kultgeschichte mit den drei Ost-Comic-Helden Abrax, Brabax und Califax. Last but not least gab es mit den „Ostseeballaden“ ein Crossover-Konzert mit dem Putensen-Beat-Ensemble und dem Philharmonischen Orchester Vorpommern.
Claudia Noatnick
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