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Im Wohlfühl-Ghetto

Braunschweiger »West Side Story« als Hollywood-Schnulze

Für einen Moment wird es ernst über den Dächern von New York, die das Staats-
theater Braunschweig in eine kreisrunde Arena mitten auf den mittelalterlichen Burgplatz gebaut hat. In der Pause verfolgen die Zuschauer irritiert, wie die Leichen der beiden Todesopfer des ersten Aktes von Bühnenarbeitern auf Bahren verladen und abtransportiert werden. Auch wenn jeder weiß, dass hier eine Menge Theaterblut im Einsatz ist, schockiert dieses Übermaß an Realismus. Und ist tatsächlich geeignet, mit der beschwingten Atmosphäre zu brechen, in der sich Theater und der allgegenwärtige Werbepartner BS-Energy zweieinhalb Stunden lang redlich bemühen, das Publikum bloß nicht mit echten Problemen und Konflikten zu behelligen.
Dabei bietet die „West Side Story“ dafür auch über 50 Jahre nach ihrer Uraufführung noch Anlass genug: diese Geschichte von jugendlichen Wohlstandsverlierern, die sich mangels Perspektive in einen Bandenkrieg flüchten, – und von diesem Amerika, das zwar als Traum besungen wird, aber in der Realität nur die Slums einer längst fortgezogenen Mittelschicht für seine Einwanderer bereithält. Man braucht die Handlung gar nicht zwingend ins Heute zu übertragen, um deutlich zu machen, dass es auch in unserer Gegenwart Jugendliche ohne Perspektive gibt. Aber wenn man, wie es die Inszenierung von Philipp Kochheim tut, allen Ernstes das New York der 50er-Jahre zwischen Dom und Burg Heinrich des Löwen installieren will, dann sollte dabei wenigstens mehr als eine große, bunte Schneekugel herauskommen. Denn dieser Slum, der im Programmheft so ausführlich thematisiert wird, ist ein Wohlfühlslum.

Auf den Dächern New Yorks: Jurriaan Bles, David Eisinger, Adrian Becker, Philipp Georgopoulos, Manuel Dengler und Ensemble. Foto: Volker Beinhorn

Auf den Dächern New Yorks: Jurriaan Bles, David Eisinger, Adrian Becker, Philipp Georgopoulos, Manuel Dengler und Ensemble. Foto: Volker Beinhorn

Zwischen den Schornsteinen auf der Bühne liegt kein Körnchen Staub oder gar eine tote Taube, die Kleider der Girlies glänzen wie eben neu im Laden gekauft, die weißen Schuhe (!) sind sauber wie aus der Waschmaschine und auch die Gesichter spiegeln nicht die Hoffnungslosigkeit der Vorstadt, sondern die romantisierte Version davon. Es ist ein starkes Stück Sozialkitsch, das die Ausstatterin Barbara Bloch da auf die Bühne um den Braunschweiger Löwen zaubert, voller überflüssiger Details bis hin zu einer Kolonne historischer Nähmaschinen, die für genau einen Song vom Chor auf die Bühne gerollt werden und dann dort stehen bleiben.

Nun gibt es etliche Hollywood-Epen, die mit genau diesen überzeichneten, verträumten Bildern eines imaginären Amerikas große Gefühle bei einem Millionen-Publikum hervorrufen. Allein, auch wenn man sich bezüglich Ausstattung und Grundsetting von jedem Anspruch an eine moderne und interpretierende Musiktheater-Regie verabschiedet und sich wie in einem altmodischen Kino verzaubern lassen will, funktioniert der Abend allenfalls rudimentär.

Noch am besten gelingt die Integration von Chor und Solo-Rollen, zwischen denen es in der Choreografie von Alonso Barros überhaupt keine Trennung gibt. Sharks und Jets leben auf den Dächern mit ihren Girlies in einer Art Parallelwelt, ab und zu steigen Erwachsene durch die Dachfenster, aber grundsätzlich ist die Freiheit groß. Und beide Gruppen überzeugen jenseits der Designer-Klamotten durch eine starke innere Geschlossenheit, auch in den schauspielerischen Details der zweiten Reihe. Die Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria dagegen gerät zu einem kompletten Desaster, was vor allem daran liegt, dass Matthias Stier als untersetzter und etwas schüchterner Tony zwar stimmlich überzeugt, aber die Chemie mit Moran Abouloff als aufmüpfigem und lebenslustigem Teenager nicht zündet. Mit großen Operngesten stolpert das Paar durch die weltberühmten Songs, aber ein Anlass für das gemeinsame Schmachten ist nirgends zu erkennen.

Als Abouloff zum Schluss über den mit Kunstblut verschmierten Toten ihr Abschlussständchen trällert, verfängt sich in der Premiere ihr Unterrock in den niegelnagelneuen Stöckelschuhen. Eigentlich eine Nebensächlichkeit, führt das rutschende Unterkostüm zu großer Heiterkeit bei vielen Zuschauern, die den behaupteten Gefühlen auf der Bühne offenbar nicht mehr folgen mögen. Was dann doch wieder hoffen lässt, dass das breite Publikum ein Mindestmaß an Interpretation auch bei einem Musical erwartet. Wem, wenn nicht den hochprofessionellen Stadt- und Staatstheatern sollte es denn gelingen, dieses zu Unrecht vernachlässigte Genre durch zupackende und überraschende Interpretationen aus dem künstlerischen Off zu holen? Für geist- und seelenlose Tournee-Ableger wie diese Braunschweiger Inszenierung brauchen wir uns nun wirklich nicht im transatlantischen Freihandelsabkommen vor US-Entertainment zu schützen. Im Gegenteil: Die Amerikaner können es besser.

Alexander Kohlmann

 

 

 

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