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Keine moralische Anstalt

Das Tanzprojekt „Gravity“ in Wien · Joachim Gerstmeier im Gespräch

Mit tatkräftiger Unterstützung des Siemens Arts Program fand im Tanzquartier Wien vom 17. bis 28. März 2009 eine „Programm-Insel“ mit dem Titel „Gravity – Skizzen zu Tanz und Gesellschaft“ statt. Die Idee der Programminseln begleitet das letzte Jahr der Gründungs-Intendanz von Sigrid Gareis, und jede einzelne Insel lässt die Schwerpunkte der Arbeit dieser Gründungsjahre noch einmal aufleben. Die Gestaltung des Programms, das von Vorträgen über Installationen und Filme bis hin zu Performance-Skizzen reichte, übernahmen Sigrid Gareis und Joachim Gerstmeier, Projektleiter des Siemens Arts Program im Bereich Darstellende Kunst. „Gravity“ wollte die Frage stellen, wie sich der zeitgenössische Tanz im Kräftefeld von Kunst und Gesellschaft bewegt und welches Gewicht, welche Schwere oder Schubkraft er heute entwickeln kann. Das Projekt, so heißt es im Programm, „möchte unterschiedliche Perspektiven und Lesarten auf das anbieten, was Choreografie heute über Gesellschaft zu sagen hat, auch wenn dies nicht offensichtlich ist und sich vielleicht eher in der rhythmischen Form oder stillen Intensität von Kommunikation entdecken lässt. Der Entwurfscharakter der Skizze gibt Einblicke in das, was im künstlerischen Werk oft nicht mehr sichtbar ist, und ermöglicht zugleich spezifische Momentaufnahmen gesellschaftlicher Empfindungen.“

Im folgenden Interview spricht Joachim Gerstmeier mit Bettina Hagen unter anderem über die Beweggründe für sein Engagement und offenbart damit auch seinen Glauben an die Qualitäten dieser im wahrsten Sinne des Wortes lebendigen Kunstform.

 
Schwerkraft und Leichtigkeit –Themen des modernen Tanzes wie der Gesellschaft. Foto: Crobis
 

Schwerkraft und Leichtigkeit –Themen des modernen Tanzes wie der Gesellschaft. Foto: Crobis

 

Bettina Hagen: Zunächst zeugt für mich der Titel „Gravity“ auch von einem gewissen Selbstbewusstsein des Tanzes in der Gesellschaft und im Umfeld der Künste. Welche Überlegungen spielten für Sie und Sigrid Gareis die entscheidende Rolle bei der Auswahl des Themas? Was sind für Sie die Stärken des zeitgenössischen Tanzes im heutigen Kulturbetrieb?
Joachim Gerstmeier: Künstler wie Veranstalter werden von unterschiedlichen Seiten zunehmend mit der Forderung nach mehr gesellschaftlichem Engagement des Tanzes konfrontiert – oft verbunden mit dem Duktus: Was bietet die Kunst der Welt? Als müsste sich der Tanz durch Nützlichkeit für die Gesellschaft legitimieren. Dabei kursiert immer noch die 70er-Jahre Idee, dass sich der Tanz dann gesellschaftlich engagiert, wenn er auf die Straße geht oder politische Vorgänge kommentiert. Wir dachten, man müsste die Frage eigentlich umkehren: Was bietet die Welt der Kunst? Denn das Umfeld nährt den Tanz – und dieses gesellschaftliche Umfeld des Tanzes verändert sich sehr. Deshalb wollten wir auf die Wechselwirkungen und das Kräftefeld schauen, das dabei entsteht. Die Frage war, welche Schubkraft der Tanz entwickeln kann. Der Tanz ist hier insofern interessant, als er durch den Körper schon immer in Lebensvollzüge verstrickt ist. Am Körper werden die Abdrücke und Konflikte der Gesellschaft spürbar. Ich glaube, eine der großen Stärken des zeitgenössischen Tanzes liegt in seinem Vermögen, sich jenseits dessen zu bewegen, was man sowieso schon kennt. Der Tanz errichtet nichts Dauerhaftes, sondern zeigt uns, dass sich die Dinge ändern lassen, dass man sich von einem bestimmten Standpunkt lösen und Bestehendes aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann.

Hagen: Standen bei der Zusammenstellung des Programms thematische oder ästhetische Überlegungen im Vordergrund oder wurde auch einfach mal auf spannende junge Choreografinnen vertraut?
Gerstmeier: Es ging uns darum, in diesem großen Themenfeld kleine Trampelpfade mit sehr spezifischen künstlerischen Handschriften anzulegen, die nicht offensichtlich gesellschaftliches Engagement demonstrieren, sondern den Zuschauer eher nach den oft subtilen Verbindungen suchen lassen. Wir haben deshalb sowohl Choreografinnen eingeladen, die in ihrer Arbeit gesellschaftliche Zustände reflektieren als auch solche, von deren künstlerischem Potential wir überzeugt sind und von denen wir uns überraschen lassen wollten.

Hagen: Welche Skizzen haben Sie besonders beeindruckt oder überrascht?
Gerstmeier: Viele haben mich auf ihre eigene Weise beeindruckt. Cuqui Jerez aus Spanien, weil ihre Idee, alles auf die Bühne zu bringen, was in einem Moment auf der Welt gleichzeitig passiert, eine ganz eigene, humorvolle Perspektive bot. Marijs Boulogne aus Belgien, weil sie mit einer ungeheuren Energie die Grenzen zwischen Kunst und Gesellschaft derart subversiv umspielte, dass die Arbeit einen mehrere Tage nicht losließ, unabhängig davon, wie man sie bewertete. Das ist eine seltene Leistung. An Mette Ingvartsen aus Dänemark hat mich die starke künstlerische Setzung beeindruckt, ohne Darsteller zu arbeiten und buchstäblich die Luft zwischen den Menschen zu inszenieren.

Hagen: Was sagt der zeitgenössische Tanz über die heutige Gesellschaft aus? Ist diese Frage überhaupt zulässig?
Gerstmeier: Der zeitgenössische Tanz verkörpert heute keine ideologischen Konzepte mehr und ist auch keine moralische Anstalt. Vielmehr zeigt er Leerstellen, Unvereinbarkeiten oder Bruchlinien. Damit eröffnet er Perspektiven auf gesellschaftliche Zustände und lässt sie uns durch den Körper wahrnehmen. Jede der Skizzen hat hier an einem anderen Punkt angesetzt, schließlich handelte es sich dabei auch um Momentaufnahmen. Sie warfen ein Schlaglicht auf das gebrochene Verhältnis im Umgang mit Gefühlen oder darauf, wie die Wahrnehmung des anderen durch Medienbilder oder Klischees geprägt ist. Sie fragten, wie Gemeinschaft hergestellt wird oder wie es um das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft bestellt ist. Mit dem Tanz sehen wir die Welt anders.

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