Extreme schärfen Ohren und Sinne
Der Chordirektor des Oldenburgischen Staatstheaters: Thomas Bönisch
Wie schätzen Sie die bisweilen zu hörende Meinung ein, Chorsänger
und Chordirektoren hätten oft gar kein Interesse an Neuer Musik?
Da es weder „den Chorsänger“ noch „den Chordirektor“ gibt,
macht diese Pauschalaussage natürlich keinen Sinn. Nach besonderen
Momenten am Oldenburgischen Staatstheater befragt, rangiert beispielsweise
Adriana Hölszkys „Die Wände“ bei meinen Chorkollegen
unter den „Top Ten“. Klar, in der anstrengenden Vorbereitung
einer solchen Oper wird sicher auch gestöhnt. Aber heißt
dies, dass man kein Interesse daran hat? Am Ende schrieb „Die
Zeit“: „Auf nach Oldenburg!“
Werden Chorsänger Ihrer Auffassung nach durch das Studium ausreichend auf
die Aufgabe, Neue Musik zu interpretieren, vorbereitet?
Was zählt, sind Erfahrungen mit der Literatur. Die Klangvorstellungen
der Komponisten und die daraus resultierenden Notationsformen sind
höchst unterschiedlich. Was nützt ein Seminar über
die Notationsweise von Violeta Dinescu? Wichtig ist es, die Literatur
zu singen, Berührungsängste abzubauen sowie eine gewisse
Routine im Umgang mit dem, was zunächst unsingbar erscheint,
zu erlernen. Längst nicht bei allen Sängerinnen und Sängern
ist dies selbstverständlich.
Wie strahlt die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik auf die Arbeit
am Repertoire zurück?
Es gibt nichts Besseres als diesen Wechsel! Allerdings wünscht
man sich und seinen Leuten Zeit zum Umschalten, was fast nie möglich
ist. Gerade die oftmals verlangten Extreme schärfen Ohren
und Sinn für Schönheit und Maß. Ich glaube, dass
die Auseinandersetzung mit Neuer Musik der Gefahr des „Allround-Klanges“ entgegenwirkt.
Opernchöre sind extrem wandelbar und müssen es bleiben!
Welche Erwartungen haben Sie als Chorsänger/Chordirektor an neu komponierte
Opern?
Nur eine: Dass man sie sich nicht erst umschreiben muss, um
sie singen zu können. Ich habe schon einige Nächte damit
zugebracht. Erfahrungen des Komponisten mit den Möglichkeiten
der menschlichen Stimme sind ebenso unerlässlich wie eine
präzise Notation, die ausführbar ist. Wir fühlen
uns nur wohl, wenn wir genau sein können. Leider dürfen
wir nicht immer. Wem nutzen 13 Notenhälse mit 7 unsingbaren
Silben darunter, das Ganze im Bass auf dem tiefen Es mit einem
forte-fortissimo bezeichnet?
Auf der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern
einige Komponisten die Palette der stimmlichen Anforderungen bis hin zu einem
Singen am Stimmrand inklusive Keuchen, Krächzen und Schreien. Sehen Sie
hier Grenzen oder Gefährdungen für den Beruf des Opernchorsängers?
Jeder Sänger wird sich und seiner Technik treu bleiben, egal
welche Noten er sieht. Seine Stimme ist sein Kapital, damit ernährt
er seine Familie. So gesehen werden unmögliche Anforderungen
unmöglich bleiben. Mauricio Kagel hat uns noch in Oldenburg
besucht („Aus Deutschland“). Auch er hat nicht jede
Note 1:1 zurückbekommen. Das heißt nicht „Light-Version“!
Aber am besten merkt es der Komponist selbst, was am Ende ging
und was nicht.
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