|
Verschiedene Stationen des Leidens
James MacMillans „Johannes-Passion“ in Berlin · Von
Arne Reul
Denken Sie sich was aus!“, lautete die Aufforderung von
Hans-Hermann Rehberg, dem Direktor des Rundfunkchors Berlin, an
den Komponisten Christian Jost. Was dann herauskam, war die Erfindung
eines völlig neuen Genres: die Choroper. Josts Choroper „Angst“ ist
Teil des ambitionierten Projekts „Broadening the Scope of
Choral Music“ des Rundfunkchors Berlin. Die Idee dahinter
ist, der Chormusik neue Dimensionen zu erschließen. In „Angst“ agiert
während der ganzen Aufführung ein Chor auf der Bühne,
einzelne Figuren gibt es nicht. Im Februar konnte man an der Komischen
Oper Berlin eine moderne Inszenierung von „Angst“ erleben,
mit aufwändiger Lichtregie und Videoinstallationen. Auch das
Chorwerk „Der versiegelte Engel“ des russischen Komponisten
Rodion Shchedrin wurde im Rahmen des „Broadening“-Projekts
aufgeführt. Als Spielstätten wählte man zuerst eine
ausgebrannte Barockkirche, dann eine Fabrikhalle. Wieder wurde
der Rundfunkchor an der Inszenierung beteiligt, ferner arbeitete
man mit Tänzern des Staatsballetts Berlin. Mit neuen Spielorten,
einer anderen Art der Präsentation und der Schwerpunktsetzung
auf zeitgenössische Musik, erschließt sich der Rundfunkchor
ein neues Publikum.
Am 14. März wurde im Berliner Konzerthaus das jüngste
Konzert in dieser Reihe verwirklicht, die „Johannes-Passion“ des
schottischen Komponisten James MacMillan: ein Auftragswerk des
Rundfunkchors in Zusammenarbeit mit dem London Symphony Orchestra,
dem Concertgebouworkest Amsterdam und dem Boston Symphony Orchestra.
So war nach der Londoner Premiere nun in Berlin die weltweit zweite
Aufführung der Passion zu erleben, jetzt in einer szenischen
Darstellung! Der Choreograf Lars Scheibner nutzte hierfür
den schmalen Streifen des Orchesterpodiums zwischen Dirigent und
Publikum, um den Leidensweg Jesu – dargestellt von dem Tänzer
Gilles Welinski – nachzuspielen. Scheibners Ausgangsidee
war, der monumentalen Musik etwas Eigenes entgegenzusetzen. MacMillans
Jesus ist eine heroische, fast schon rebellisch zu nennende Figur,
wunderbar gesungen von dem englischen Bariton Marc Stone, der mit
seiner kraftvollen Stimme jeden Winkel des Konzerthauses auszufüllen
vermag. Welinski hingegen verkörpert in seiner Nacktheit und
Verwundbarkeit einen kreatürlichen, verletzlichen Jesus. Mit
bewundernswerter Körperbeherrschung zelebriert der Tänzer
Jesu Gang zum Kreuz. Er bewegt sich dabei wie in Zeitlupe und kreiert
dadurch Bilder von großer Eindringlichkeit.
Erst Minuten nach Beginn der Aufführung kriecht dieser Jesus
langsam aus einem Erdhaufen hervor, um dann verschiedene Stationen
des Leidens zu absolvieren. Er wird gefesselt, schleppt Steine,
balanciert auf dem in schiefer Ebene aufgestellten Holzkreuz, bevor
er mit den Füßen an einem Seil aufgehängt wird.
Jesus wird hier in seiner Körperlichkeit erfahrbar und genau
damit möchte Scheibner dem Zuschauer einen direkten Zugang
zur Jesusfigur ermöglichen. Er geht dabei davon aus, dass
der Gottesbegriff für viele Menschen abstrakt wirkt, die körperliche
Präsenz des leidenden Jesu hingegen vermittelt eine unmittelbare
Wirkung. Im Gegensatz dazu steht MacMillans Musik. Zwar beruft
sich der Komponist bei seiner Johannes-Passion auf Bach, tatsächlich
aber sind die Gemeinsamkeiten zu dessen Musik nur sehr begrenzt.
Vielmehr ist es der geschichtliche Rang von Bachs gleichnamiger
Vertonung, die wohl bei MacMillans Musik mitschwingt. Wenn man
schon einen Vergleich mit Bach ziehen möchte, dann könnte
man auf MacMillans erstaunlichen Instinkt für effektvolle
Dramatik verweisen. Dabei spielt der Einsatz von unterschiedlich
disponierten Chören eine wesentliche Rolle.
Bereits der Erzähler – bei Bach der Evangelist – ist
nicht einem einzelnen Solisten zugewiesen, sondern einem kleinen
Erzählchor. MacMillan schöpft aus einer Fülle musikalischer
Idiome und kreiert damit eine Tonsprache, die authentisch und fremdartig
zugleich wirkt. Gregorianische Skalen, Kirchentonarten, Dreiklangsstrukturen
und Chromatik, alles kommt zum Einsatz und ist doch weitgehend
stimmig zu einem musikalischen Gesamtkonzept verschmolzen. Zu Beginn
deklamiert der Erzählchor die Gefangennahme Jesu in antik
anmutenden Monodien. Dann der Bruch: Auf die Frage Jesu an die
Hohenpriester, wen sie denn suchten, fällt ein großer
Chor mit der Namensnennung „Jesus von Nazareth“ in
das Geschehen ein. Mit großem Pathos entladen sich nun Klänge,
die ein riesiges musikalisches Spektrum entfalten. Dieser schillernde
Stilpluralismus gepaart mit heftigen musikalischen Gegensätzen
hält den Hörer permanent in Atem. Im dritten Teil „Jesus
vor Pilatus“, wechseln Erzählchor und großer Chor
in rasanter Abfolge, wobei der große Chor die Rolle des Volkes übernimmt,
um schon im nächsten Moment den Richter Pilatus zu verkörpern.
Das Orchester schaltet sich vermittelnd zwischen den Chören
ein, treibt aber auch die Dramatik des Geschehens energisch voran.
Unter der Leitung von Simon Halsey überzeugte besonders der
Rundfunkchor Berlin in der Umsetzung dieser komplexen und ereignisreichen
Musik. Schon jetzt lässt sich absehen, dass MacMillans Johannes-Passion
ein dauerhafter Erfolg bevorsteht. Demnächst wird das Werk
in Amsterdam und Boston und dann wieder in Großbritannien
zu hören sein, für 2011 ist eine Aufführung in Estland
geplant. Und auch auf weitere künstlerische Innovationen des „Broadening“-Projekts
darf man gespannt sein.
Arne Reul
|