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Namen & Fakten

Die wesentliche Energie auf der Bühne

Peter Konwitschny über die Opernchöre · Im Gespräch mit Thomas Heymann

Das jüngste Beispiel in Stuttgart zeigt einmal mehr die Bedeutung einer angemessenen Regieführung für den Chor. Hier haben Regisseure in der Vergangenheit nicht selten wenig Sensibilität für das Machbare und das Sinnvolle bewiesen. Peter Konwitschny ist bekannt für den bewussten und klugen Einsatz der Chöre in seinen Inszenierungen. Über die Bedeutung der Opernchöre sprach für Oper&Tanz Thomas Heymann mit dem Regisseur.

Oper&Tanz: Regietheater ist mal wieder in aller Munde. Aber Theater ist nun einmal auch Regie, sonst wäre es Konzert. Wie sehen Sie die Stellung des Opernchors in einer Inszenierung?

 
Peter Konwitschny. Foto: Thomas Heymann
 

Peter Konwitschny. Foto: Thomas Heymann

 

Peter Konwitschny: Es gibt zwei grundsätzliche Auffassungen von Theater überhaupt. Ist es Wirklichkeit? Bilden wir Wirklichkeit nach? Oder ist es artifiziell, etwas, das sich sehr deutlich von den Formen des Lebens absetzen muss? Erstere geht letztlich auf Walter Felsenstein zurück. Realistisches Musiktheater muss eben nicht künstlich sein, es muss Wirklichkeit abbilden. Oder es ist so abstrakt wie bei Robert Wilson, jetzt mal extrem, wo sozusagen die Bewegungen nichts mehr mit dem Stück und mit der Musik zu tun haben. Es wird geradezu mathematisch. Er erfindet und bestimmt einen Algorithmus, bei welchem Takt welche Bewegung kommt. Es hat mit dem Werk nur dann, wenn man will, etwas zu tun, wenn man sich selbst zusammensetzt, was vom Theater, von der Bühne nicht zusammengedacht ist.

Ich bediene mich ja eklektizistisch von allem, was vor mir erschaffen wurde, sowohl bei Felsenstein mit seiner detailgetreuen Psychologie, also der genauen Umsetzung von Musik in Bewegung. Ich bediene mich aber auch bei Brecht, der durch Ruth Berghaus auch auf mich gekommen ist.

Grundsätzlich möchte ich sagen, dass ich den Chor für eine wesentliche Energie auf der Opernbühne halte. Ich finde es sehr bedauerlich, wenn das von meinen Kollegen verschenkt wird. Der Chor ist für die Oper schlechthin die Erweiterung der Dimension.
Ich möchte erreichen, dass man den Unterschied zwischen Solist und Chormitglied nicht mehr sieht. Da sind, zum Beispiel im 2. Bild in der „Bohème“, Menschen abends auf der Straße, sie feiern Weihnachten. Ich finde, es gibt keinen Grund, warum Rodolfo und Marcello im Vergleich zu den vom Chor dargestellten Menschen irgendwie besonders sein sollen. Sie feiern ganz gleichberechtigt Weihnachten. Die müssen auch keine anderen Kostüme anhaben. Es gibt aber Kostümbildner, die meinen, dass die Solisten irgendwie edlere Stoffe als die Kollegen vom Chor tragen müssen. Das finde ich völlig daneben. Das ist so eine asoziale Denkweise, die letztlich repräsentativ ist. Asozial finde ich es, weil da plötzlich ein Machtgefälle, ein Wertgefälle produziert wird, was der jeweiligen Erzählung entgegen steht. Das Schönste ist für mich immer, wenn man nicht mehr unterscheiden kann, was sind Solisten, was sind Chorsänger.

Oper ist störanfällig

O&T: Szene oder Musik? Wie weit dürfen die Anforderungen eines Regisseurs in einer Inszenierung an den Opernchor gehen und folgt daraus eine unterschiedliche Wertigkeit von Szene oder Musik?

Konwitschny: Wenn wir ein Bühnenwerk spielen, betreten wir, im Gegensatz zu einem Oratorium oder einem Konzert, eine Bühne. Und in dem Moment haben wir uns auch den Gesetzen der Bühne zu unterwerfen. Die sind archaisch, ein paar tausend Jahre alt. Wenn ich mich erhöhe – und manchmal brauche ich dafür nur eine kleine Holzkiste – als Clown oder als sonst was, muss ich etwas Sinnvolles auszudrücken haben. Nur etwas Schönes, wie zum Beispiel nur schöne Töne singen, genügt nicht. Ich finde, das ist nicht einmal für ein Konzert geeignet. Das ist eine ethische Sache, eine religiöse und betrifft uns in unserer gesellschaftlichen Seinsweise ganz zentral. Vergleichbar wäre es, wenn beim Gottesdienst der Pfarrer gar keine Idee hat, wie er den Leuten mitteilen soll, warum der Glaube eigentlich gut ist.

 
Konwitschny während einer Probe zu „La Bohème“ (1991).
 

Konwitschny während einer Probe zu „La Bohème“ (1991).
Foto: Andreas Birkigt

 

Wenn ein Mensch oder ein Chor auf die Bühne tritt und dort nichts von Bedeutung für die Gesellschaft zu erzählen hat, dann ist das asozial. Die Gesetze der Bühne werden missachtet und das Geld zum Fenster hinausgeschmissen. Im Musiktheater ist das noch spezifischer als im Sprechtheater. Im Musiktheater wird das Ganze, wird die Sprache mit Musik, mit geordneten Tönen, die sich in Jahrhunderten gebildet haben, verbunden. Da muss man präzise singen können.

Durch die Musik ist die Oper viel störanfälliger als das Schauspiel. Der Schauspielregisseur muss viel musikalischer sein als der Opernregisseur, weil dieser faktisch selbst komponiert. Als Opernregisseur muss ich alle Erfindungen, alle Ideen, die ich überhaupt habe, einem durch die Musik vorgegebenen Ablauf zuordnen. Wenn ich das berücksichtige, gibt es eine Dialektik von Szene und Musik. Berücksichtige ich das nicht, dann gibt es nur eine Mechanik. Dann gibt es nur entweder ein: „Die Musik gefällt mir“ oder „Die Szene gefällt mir“. Die Szene funktioniert gerade mal so, sie stört die Musik nicht, aber sie hat keinen fundamentalen Zusammenhang mit der Musik.
Und Ihre Frage „Wie weit dürfen …“ ist auch ein kleinwenig negativ belastet. Da liegt auch drin, dass es Regisseure gibt, die Dinge fordern, die mit der Musik eben nicht zu machen sind. Der globalisierten Gesellschaft genügt eine Oper als Event. Es ist nur störend, wenn irgendwelche Themen wirklich behandelt werden und man als Zuschauer nicht ausweichen kann. Da eignet sich der Chor gut, um als Block, in schönen Kostümchen nur hin- und hergeschoben zu werden: auftreten, stehen, singen, weggehen.

Eine Sache des Sich-Trauens

O&T: „Wenn Du es zum Solisten nicht schaffst, dann geh‘ doch in einen Opernchor.“ Wie sehen Sie die momentane Ausbildungssituation für den Beruf Opernchorsänger? Sind die Absolventen nicht nur Sänger, sondern auch Sängerdarsteller?

Konwitschny: Ich unterrichte in Hamburg, Berlin, Wien, München, Graz und habe einen gewissen Überblick. Ich denke, dass die Ausbildung sowohl von Sängern als auch von Regisseuren teilweise sehr im Argen liegt, weil die Lehrkräfte nicht gut genug sind. Viele, die in der Praxis am Theater nicht richtig zu Rande kommen, gehen an die Schulen. Wenn jemand richtig Theater machen kann, dann macht er Theater und ist nicht hauptberuflich an der Schule.

Wenn ich ein oder zwei Wochen mit Gesangsstudenten arbeite, alle möglichen Arien und Duette, macht es mir unheimlichen Spaß, wenn Grenzüberschreitungen stattfinden. Das ist, als ob einer neu geboren wird, weil er plötzlich merkt, was er alles kann.

 
„Aida“ in Leipzig (PremiereNovember 2008) mit dem Chor der Oper Leipzig.. Foto: Birkigt
 

„Aida“ in Leipzig (PremiereNovember 2008) mit dem Chor der Oper Leipzig.. Foto: Birkigt

 

Für mich ist es prekär, wenn ich merke, dass Leute dabei sind – nicht nur beim Chor, sondern auch bei den Solisten – die szenisch keine Ahnung haben. Keine Ahnung davon, was es bedeutet, in eine andere Figur zu schlüpfen. Jetzt bin ich zwar noch ich, aber ich bin auch nicht mehr ich. Dieses Theaterspielen ist eine fantastische, ja auch eine archaische Sache.

Als ich studierte, hatten wir bei Erhard Fischer dramatischen Unterricht. Ich weiß noch: Ich war Max im Freischütz – wir erarbeiteten die Dialoge und ich hatte so ein ungutes Gefühl. Wie soll ich das denn nun sagen? Plötzlich brüllte er mich richtig an, und ich erlebte eine Grenzüberschreitung. Ich bekam solche Angst, dass ich sozusagen den Boden unter mir verlor. Aber die Angst mich zu blamieren war plötzlich weg. Er bewegte mich, Sachen zu tun, die ich vorher gar nicht konnte. Das war die Initiation, eine Sternstunde für mich. Ohne diese Stunde weiß ich gar nicht, ob nicht mein Weg anders verlaufen wäre. Wenn ich nun merke, dass ein Solist oder Chorsänger das gar nicht kann, was er darstellen soll, sage ich zum Beispiel: „Ihr müsst einen Schreck kriegen.“ Wenn ich einen Schreck bekomme, zuckt mein Körper zurück, weg vom Herd des Grauens. Oder wenn ich mich erschrecke, können sich die Augen nicht davon lösen. Der Körper geht zurück, aber der Blick bleibt dort.

Manche sind verkrampft, andere haben keine Spannung. Solche Sänger zu führen ist doppelt so schwierig. Viele können sich in ihre Rolle, in die Szene hineinversetzen. Aber andere brauchen Hilfe. Das ist teilweise wie die hohe Schule der Psychotherapie. Therapie sage ich ganz bewusst, denn es ist nicht nur eine Sache des Könnens, sondern auch des Wagens, Sich-Trauens.

Viele Chorsänger tragen eine gewisse Traurigkeit mit sich herum. Sie wollten eigentlich immer Solisten werden, es ist aus irgendeinem Grund anders gekommen. Man darf nicht vom Tisch wischen, dass es da ein Potenzial an Resignation gibt.

Für mich, der diese Kollegen anleitet, ist das nicht nur eine fachliche, sondern auch eine menschliche Frage. Wie wird der Mensch sich dort eingliedern können? Wenn zuviel Frust da ist, kann er sich nicht anschließen. Ich denke, das ist ganz entscheidend, damit eine kollektive Lust an unserer Arbeit entsteht. Wir sind ja wahnsinnig privilegiert und wären blöd, uns diese Freude miteinander zu verderben.
Wenn man als Regisseur den Chor nicht kennt, nimmt man jemanden, der einem nicht ungeeignet erscheint. Die anderen lassen sich nichts anmerken, stoßen sich so an und sagen: „Na warte mal, was der jetzt mit dem so macht.“ Oft passiert dann Folgendes: Dieser Kollege, der das von sich selbst nicht wusste (und die anderen wussten es auch nicht), macht plötzlich sagenhafte Sachen. Wenn ich das mit ein bisschen Geschick fördere, dann geht dieser Sänger über die Grenze, die er bisher hatte, hinaus, ist dann der glücklichste Mensch und wir freuen uns alle mit. So etwas überzeugt den ganzen Chor und plötzlich wollen alle wahnsinnige Sachen machen. Wenn so etwas stattfindet, ist das die Paradiessituation in unserer Arbeit. Das kann nicht immer sein. Aber ich muss bei dem Guten anknüpfen, bei dem, was möglich ist.

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