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Kulturpolitik

Zu Besuch im Luxuskino

Oper für Kinder und Jugendliche in Hannover · Von Christian Tepe

Sensibilisierung aller Sinne, Stärkung der Reflexionskraft, Weckung der schöpferischen Aktivität – dies sind die zentralen Aspekte einer ästhetischen Alphabetisierung junger Menschen, wie sie hierzulande vornehmlich von den Theatern geleistet wird. Mit der Initiative „OpuS“ (Oper und Schule) fördert die Staatsoper Hannover die lebendige Auseinandersetzung junger Menschen mit dem Musiktheater. Christian Tepe sprach für „Oper&Tanz“ mit der Dramaturgin Dorothea Hartmann und der leitenden Theaterpädagogin Gundel Gebauer über das Zusammenspiel von Kunst und Pädagogik.

Oper&Tanz: Wer den Spielplanprospekt von „OpuS“ durchblättert, sieht darin immer wieder junge Leute mit einem Modell des Opernhauses hantieren. So ein Kultgebäude ist ja etwas selten Erlebbares in der architektonischen Tristesse westdeutscher Städte.

 
Rap-Oper „Culture-Clash: Die Entführung“. Foto: Staatsoper Hannover
 

Rap-Oper „Culture-Clash: Die Entführung“. Foto: Staatsoper Hannover

 

Gundel Gebauer: Das ist genau der Grund, warum viele Lehrer und Jugendliche zu diesem Haus kommen. Aber gleichzeitig wird durch das Alter und die Größe des Gebäudes bei manchen jungen Leuten auch eine gewisse Schwellenangst ausgelöst, die man überbrücken muss. Mit den Fotos wollten wir ausdrücken, dass wir mit unserem Haus zu den Jugendlichen gehen und nicht passiv warten, dass sie zu uns kommen.

Dorothea Hartmann: Es gibt dazu eine ganz schöne Geschichte. Bei einer Vorstellung unserer Rap-Oper „Culture-Clash: Die Entführung“ rutschte einem Jugendlichen die Bemerkung heraus: „Das ist ja voll das Luxuskino hier“.

O&T: Die Oper als eine künstlerische Sprach- und Spielform erotischer Verwicklungen setzt ja doch einen gewissen seelischen Reifegrad des Publikums voraus. Ist es insoweit überhaupt sinnvoll, junge Menschen schon als Kinder für die Oper gewinnen zu wollen? Anders gefragt: Was ist es, was speziell die Oper als ein kindentsprechendes Medium ausweist?

Hartmann: Kinder singen gerne, schon die allerkleinsten mit zwei Jahren, später dann weniger Kinderlieder, sondern Pop, Rock, Rap. Und singen – genau das ist doch Oper! Insofern setzt das Musiktheater keinen „seelischen Reifegrad“ voraus. Schon kleine Kinder transportieren über das eigene Singen Emotionen, und sie verstehen es sehr gut, wenn man ihnen mit Gesang Geschichten erzählt. Wir haben das ausprobiert mit „Bi-Ba-Butzemann!“, einem Musiktheaterprojekt für Kinder ab 3 Jahren, in der eine professionelle Sängerin, ein Pianist und ein Schlagzeuger sich mit Volks- und Kinderliedern auf die Reise machen in die Gesangswelt der Kinder. Das Ziel dabei war weniger, schon Kindergartenkinder an die Oper heranzuführen, sie etwa auf einen späteren „Carmen“-Besuch vorzubereiten, als vielmehr, ihnen mit Gesang und Musik ein eindrückliches, sinnliches Erlebnis zu verschaffen. Und wenn die Kinder aus der Vorstellung kommen und sagen: Da in dem großen Haus mitten in Hannover, da erlebt man tolle Geschichten mit Musik, – dann haben wir sie ja schon für die Oper gewonnen!

O&T: In „Bi-Ba-Butzeman!“ geht es um das Lied eines alten Mannes, der verschwunden ist und mit ihm dieses Lied, das nun von der Protagonistin Mira überall auf der ganzen Welt gesucht wird. Diese Sehnsuchtsthematik ist ja auch etwas sehr Charakteristisches für die Gattung Oper.

Hartmann: Das spricht übrigens nicht nur kleine Kinder an, sondern oft auch die Erwachsenen, die in den Liedern die eigene Kindheit wiederfinden.

O&T: Wie wird aus der szenisch oft sehr opulenten Erwachsenenoper ein durchaus sinnliches, aber gleichwohl fassliches Musiktheater für Kinder?

 
„Orfeo auf der Leiter“ mit Ludmilla Euler (Euridice) und
 

„Orfeo auf der Leiter“ mit Ludmilla Euler (Euridice) und
Ivan Tursic (Orfeo). Foto: Staatsoper Hannover

 

Hartmann: Sinnlichkeit muss ja nicht Opulenz bedeuten, im Gegenteil: Manchmal regt ein minimales Bühnenbild die Fantasie mehr an als großformatige Aufbauten. In „Bi-Ba-Butzemann!“ gibt es nur eine einfache Holzbank, in einer anderen Kinderproduktion („Orfeo auf der Leiter“) spielen wir den Orpheus-Mythos nur auf einer Leiter. Ein Gedanke dabei war natürlich, mobil zu sein und in Kindergärten und Grundschulen zu gehen. Die dahinterliegende Idee ist jedoch, dass ich mit einfachsten Dingen alles spielen kann. Die Bank verwandelt sich in ein Schiff, sie wird zum Berg, indem ich sie hochkant stelle und oben draufstehe, oder ich drehe sie um und spanne um die vier Füße die Wäscheleine der fleißigen Waschfrauen. Diese Bank kann alles, sie ersetzt ein komplettes Bühnenbild. Doch wir haben natürlich auch Produktionen mit aufwändigen und – das finde ich auch wichtig – die Kinder überraschenden Bühnenbildern: zum Beispiel Benjamin Brittens „Der kleine Schornsteinfeger“ mit einem riesigen Schornstein, der aus dem Bühnenbild wächst oder Andy Papes „Sigurd, der Drachentöter“, wo sich die Schmiede, in der Sigurd aufwächst, in den Drachen verwandelt.

O&T: Neben den Stücken selbst bietet die Staatsoper auch eine intensive theaterpädagogische Betreuung an.

Gebauer: Im Gegensatz zu Grundschulkindern, die noch eine naivere und direktere Verbindung zum Musiktheater haben, weil sie noch nicht so schnell bewerten, ist die Oper für 14-Jährige zunächst sehr fremd. Man muss dafür sorgen, dass die jungen Leute zu dieser artifiziellen Kunstgattung überhaupt einen Zugang finden. Da müssen wir sehr weit unten ansetzen und deutlich machen: Das, was in der Oper erzählt wird, sind grundmenschliche Emotionen und menschliche Schicksale, die könnte jeder erleben. Dann kann man weiterfragen: Wie drückt sich das in dieser für die Jugendlichen seltsamen Musik überhaupt aus? So entsteht langsam ein Austausch über die Musik.

O&T: Warum setzt die Staatsoper bei ihrem theaterpädagogischen Jugendangebot nicht stärker auf Opern des 20. Jahrhunderts? Auf dem Spielplan stehen „Die Bassariden“ und „Aus einem Totenhaus“. Das sind doch Werke, in denen – auch was die dissonante Musiksprache betrifft – viel von der Welterfahrung steckt, wie sie junge Menschen heute machen müssen. Warum ist man da so zurückhaltend? Die Gesellschaft verschont ja die Heranwachsenden sonst auch nicht mit Bildern oder gar direkten Manifestationen von Leid und Elend. Und diese beiden Opern bieten doch eine ganz besondere Chance, sich damit und vielleicht auch mit der latenten Faszinationskraft, die Gewalt auf manche jungen Leute ausübt, auf einer ethisch-reflexiven Ebene auseinanderzusetzen?

Gebauer: Es gibt in den Lehrplänen der Schulen Stücke, die immer wieder sehr gerne bearbeitet werden: „Fidelio“, „Carmen“ oder „Die Zauberflöte“ wählen die Lehrer mit Vorliebe. Für „Aus einem Totenhaus“ konnten wir nachträglich noch eine Premierenklasse begeistern. Das war allerdings auch ein Musik-Leistungskurs. Das heißt, wir müssen immer auch schauen, wie die Auswahl, die wir treffen, in den Schulalltag passt.

Hartmann: Mich interessiert es sehr, Kinder und Jugendliche mit zeitgenössischer Musik zu konfrontieren, sie sind dafür oft offener als Erwachsene. Ein Musiktheaterwerk, das vielleicht vor allem von Geräuschen und Perkussion lebt und die unterschiedlichsten Ausdrucksformen der Stimme vom Flüstern, Schreien, Sprechen über das eigentliche Singen oder auch Elemente von Rap oder Rock/Pop benutzt, kann für Schüler direkter zugänglich sein als die künstlichen Formen einer da-capo-Arie oder eines hochvirtuosen Koloraturengesangs. In dieser Richtung sollten auch noch mehr Stücke vor allem für Jugendliche geschrieben werden.

Ich habe einmal erlebt, dass nach der Aufführung einer modernen Vertonung von „Hänsel und Gretel“ ein begeistertes Mädchen zu seiner Mutter sagte: „Das war toll.“ Und die Mutter antwortete: „Aber du, richtige Oper, richtige Musik war das nicht.“ Was zerstört die Mutter da alles! Da werden die Weichen dahingehend gelegt, dass mancher als Jugendlicher oder Erwachsener unter „richtiger Musik“ nur die des 17. bis 19. Jahrhunderts versteht und eine „Wozzeck“-Aufführung verlässt, weil die Klänge zu fremd sind.

Gebauer: Bei der Vorbereitung von „Sigurd, der Drachentöter“ habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Schüler einer dritten Klasse sehr offen waren, während ausgerechnet manche Lehrer Bedenken äußerten: „Das ist ja musikalisch ein schwieriges Werk – sehr dissonant; ich weiß nicht, ob das für Grundschüler geeignet ist.“

O&T: Also sind Sie als Theaterpädagogin zugleich als Erzieherin der Erzieher gefordert?

Gebauer: Aber natürlich ist das auch unsere Aufgabe. Da es immer weniger Musiklehrer gibt, ist es ganz wichtig, dass wir Workshops anbieten. Zum Beispiel für Deutschlehrer, die versuchen, den Schülern Oper zu vermitteln, denen aber zum Teil das Know-how dafür fehlt und die deshalb Unterstützung von unserer Seite brauchen.

O&T: Das Selbermachen von Musiktheater durch junge Menschen gewinnt immer größere Bedeutung. An Ihrem Haus existieren gleich drei Kinder- und Jugendopernclubs.

Gebauer: Ja, wir haben unsere „Clubszene“ erweitert. Wir decken damit eine große Altersspanne ab: von acht bis zwanzig Jahren. Wobei sich ein Jugendclub inzwischen zu einem Generationenprojekt entwickelt hat, bei dem Jugendliche mit 40- bis 60-Jährigen zusammenkommen. Das ist eine spannende Arbeit, die es erlaubt, mit den jeweiligen Zielgruppen szenisch und musikalisch zu experimentieren. Am Ende der Spielzeit steht dann eine öffentliche Vorstellung. Mit den Jugendlichen holt man Menschen herein, von denen ein Betrieb wie dieses große Haus viel lernen kann: „Wie ist die Realität draußen? Was sind das für Leute, die hier zuschauen oder unser künftiges Publikum sind?“

O&T: Ein Höhepunkt der letzten Saison war die Aufführung der Rap-Oper „Culture-Clash: Die Entführung“ mit 60 jungen Menschen auf der großen Bühne: Mozart prallt auf Rap, junge Protagonisten mit Migrationshintergrund wirken mit professionellen Opernsängern zusammen. Manche Beobachter argwöhnen, dass bei einem solchen Event das Eigene und Besondere der Oper übertönt wird.

Gebauer: Das, was „Culture-clash“ bewiesen hat, ist doch gerade, dass Jugendliche, die sonst niemals einen Fuß in dieses Luxuskino hineinsetzen würden, dazu gewonnen werden konnten, selbst klassischen Gesang auf der Bühne zu präsentieren.

Zum Beispiel unser Belmonte, der Hauptdarsteller, der aus einer ganz anderen Lebenswelt kommt, und doch in dieser Oper stilgerecht singt, sich mit seiner Rolle verbindet, sich in dieser großen Institution zu Hause fühlt und gleichzeitig natürlich auch an seine Musik anknüpft. Das war die Idee dieses Projektes: Zu schauen, wie HipHop-Musik und klassische Musik zusammen funktionieren oder nebeneinander bestehen können.
O&T: Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

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