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Künstlerisches Multi-Tasking
Der Choreografen-Beruf am Beispiel von Anna Holter · Von
Malve Gradinger Beruf Choreograf? In den 1970er-Jahren hätte man diesen künstlerischen
Beruf knapp umreißen können. Bis dahin waren Choreografen
generell als Ballettchefs (in den 1950er/60er-Jahren meist noch
unter dem Titel „Ballettmeister“) fest an ein Theater
gebunden. Sie entwarfen die Ballett-Abende und die Tanz-Einlagen
für Oper, Operette und Musical, studierten sie ein und gaben,
vor allem an kleineren Theatern, auch selbst das tägliche
Training. Heute haben Ballett-Direktoren, dies nur am Rande, Trainingsleiter,
Assistenten und Pressereferenten zur Seite.
Neues Berufsbild
Das Berufsbild „Choreograf“ hat sich mit der Entwicklung
moderner und zeitgenössischer Tanzformen ab den 1980er-Jahren
und der dadurch entstandenen „freien Tanzszene“ verändert
oder präziser: verkompliziert. Freischaffende Choreografen
sind im Grunde Ich-AGs, mit allen eigenunternehmerischen und organisatorischen
Aufgaben, Pflichten – und Risiken. Sie müssen sich um
Subventionen bemühen, möglichst auch um Sponsoren und
Co-Produzenten, was schon ein Job für sich ist. Falls erfolgreich,
können sie mit dem Geld – eventuell – eine jährliche
Produktion finanzieren. Den Lebensunterhalt jedoch müssen
sie sich mit einer Reihe anderer Aktivitäten verdienen. Heute
gottlob nicht unbedingt mehr mit kellnern.
Die 32-jährige schwedische Wahl-Münchnerin Anna Holter,
der im Januar 2009 mit ihrer Andy-Warhol-Reminiszenz „Kitchen“ ein
ausgewogenes schönes Tanztheater-Stück gelang, ist exemplarisch
für diese Generation der „multiaktiven“ Choreografen.
Nach Abitur und Tanzausbildung in Stockholm holt sie sich den letzten
Schliff an der Münchner Iwanson Schule und will erst einmal
nur tanzen. „Ich hatte Glück und wurde schon kurz vor
meinem Abschluss 1997 ans Bayerische Staatsschauspiel engagiert,
für die Bewegungssequenzen von Irina Pauls innnerhalb einer
Inszenierung von Konstanze Lauterbach, erzählt sie. Es folgen
Vortanz-Termine, Verpflichtungen in Produktionen freier Münchner
und Berliner Choreografen, in Musicals, in kommerziellen Shows
und – erste eigene kleine Stücke.
Finanziell über die Runden kommt sie, zunächst ohne Subventionen,
allerdings nur mit absoluten Spar- oder Null-Budgets: „Die
geringen Einnahmen durch Kartenverkäufe habe ich mit meinen
Tänzern geteilt. Aber an Geld denkt man am Anfang gar nicht.
Man lebt ja auch eher noch wie ein Student, ganz anspruchslos.
Man hat einfach unheimlich viel Spaß an allem und nimmt jeden
Job enthusiastisch an.“ Einmal tanzt sie fast gleichzeitig
in vier Produktionen.
Während Holters Stücke nach und nach ausgefeilter werden,
sie Unterstützung erhält vom Bayerischen Landesverband
für zeitgenössischen Tanz (BLZT), ab 2004 auch von der
Schwedischen Botschaft in Berlin und ab 2005 jährlich von
der Stadt München (für „Kitchen“ waren es
25.000 Euro), ist sie aber weiterhin zwei-, wenn nicht mehrgleisig
aktiv: seit fünf Jahren unterrichtet sie regelmäßig
Schauspielstudenten im „Theater Raum München“ in
der Disziplin „Körpertraining“. Zwischendurch
ist sie als Dozentin Fachbereich Theaterwissenschaft an der LMU
eingeladen. 2005 organisiert sie selbst in München einen schwedischen
Tanzabend. 2006 hat sie in einem Spielfilm („Blöde Mütze“)
eine Sprechrolle und diese Saison eine Tanzrolle in einer Inszenierung
von Johannes Schmid für das Bayerische Staatsschauspiel im
Marstall. Außerdem tanzt sie im Bewegungs-Chor der Bayerischen
Staatsoper in den mehrjährig laufenden Produktionen „Ariodante“ und „Die
Meistersinger“ und geht auch mit auf Japan-Tournee. Letzthin
hat sie in Konstanz für eine „Prozess“-Inszenierung
von Johannes Schmid die Choreografie gemacht, gerade jetzt im März
auch für das neue Stück „Das Zimmer der verlorenen
Bedeutung“ der Gruppe Bairishe Geisha. Existenz auf Sparflamme
Das sieht nach vielen Aufträgen aus. Die verteilen sich aber über
lange Zeitstrecken. Und ob sie für Miete und Essen reichen?
Auf Nachfrage, wieviel sie denn für ihre Auftritte in der
Oper bekomme, hält sie sich aus Vorsicht bedeckt. In Schweden
wäre es kein Problem, dort muss jeder Bürger seine Steuererklärung öffentlich
machen. Bei uns ist sogar das Reden über Gehälter und
Gagen ein Tabu. Aber man kann sich ausrechnen, dass jedes ihrer
diversen Kurz-Engagements nur ein paar grüne Scheine bringt. „Ich
zeichne auch“, sagt sie und zeigt einen Kalender mit grazil-hübschen
tanzenden Comic-Figuren. „So kommt dann auch nochmal eine
kleine Summe rein.“ Irgendwie hangelt sich Anna Holter durch,
wie hunderte anderer Kollegen, ist sich aber der schlechten Ausgangsposition
sehr wohl bewusst: „Bei Schauspielern und Sängern laufen
die Engagements über Agenturen oder private Agenten. Die kennen
die Minimum-Tarife. Tänzer haben nicht gelernt zu verhandeln.
Und wenn sie in einer freien Compagnie mitmachen, wissen sie von
vorneherein, dass sie nicht viel verlangen können. Letztlich
sind sie froh, überhaupt irgendwo tanzen zu können.“ Über diesen Punkt ist die gescheite junge Schwedin, inzwischen
Chefin von „Holter + Company“, hinaus. Sie erkennt vor allem
auch die künstlerische Bereicherung einer solchen mosaikhaften
Laufbahn: Bei einer Show auf einer Handwerks- oder Mode-Messe kriegt
man ein Gefühl für synchron-präzises Tanzen und
Effekte. Als Mitglied in einem Opern-Bewegungschor lernt man etwas über
den großen Theaterapparat mit Dekor, Kostümen und Licht.
Am Theater Basel tanzt Holter in Amir Hosseinpours Choreografie
für Rameaus Opéra-Ballet „Les Paladins“.
Daraufhin holt er sie als Assistentin nach Stockholm für seine
Choreografie in Rameaus „Zoroastre“. Eine wichtige
Erfahrung für sie: „Meine Company besteht ja nur aus
sechs bis acht Tänzern. An der Oper habe ich gelernt, die
Kontrolle über sehr viele Mitwirkende zu behalten.“
Zu ihrer eigengeprägten künstlerischen Linie hat Anna
Holter wohl in der Arbeit mit der britischen Tanzpionierin Rosemary
Butcher gefunden. Bei ihr hat sie gelernt, wie man von einer Grundidee über
gemeinsame Improvisationen mit den Tänzern allmählich,
vom Instinkt geleitet, zu einem persönlichen choreografischen
Ergebnis gelangt.
Malve Gradinger |