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Das Reich Walter Felsensteins
Die Geschichte der Berliner Opernhäuser (Teil 10) · Von
Susanne Geißler
Die „Komische Oper“ ist das jüngste
Mitglied in der Reihe der Berliner Opernhäuser. Das Haus befindet
sich jedoch auf historischem Gelände. Hier in der Behrenstraße
stand das erste bürgerliche Theater in Berlin, ein Vorläufer
des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt. Einige hundert Meter entfernt
von diesem und von der 1742 eröffneten Königlichen Oper
Unter den Linden ließ der Schauspieldirektor Franz Schuch
ein einfaches Theater als Fachwerkbau mit 700 Plätzen errichten.
1764 wurde es eröffnet und für Schau- und Singspieldarbietungen
genutzt. Die Schuch’sche, danach ab 1771 die Koch‘sche
Schauspieltruppe (nach Kochs Tod unter der Leitung Carl Theophil
Doebbelins ) gaben Stücke von Lessing, Shakespeare und Goethe,
führten aber auch Singspiele von Johann Adam Hiller, Joseph
Haydn, Johann André, Christoph Willibald Gluck und Spiel-opern
von André Ernest Modeste Grétry, Antonio Salieri,
Niccolò Paganini und Giovanni Paisiello auf. Nach dem Tode
Friedrichs II. 1786 durften wegen der Landestrauer sechs Wochen
lang keine Theatervorstellungen stattfinden. Von dieser finanziellen
Einbuße vermochte sich Doebbelin nicht mehr zu erholen und
wechselte an das Königliche Schauspielhaus. Regelmäßige
Vorstellungen fanden in der Behrenstraße nun nicht mehr statt,
nur noch gelegentliche Artisten-Vorführungen. Ein Theater
gab es hier erst wieder ab 1892. „Unter den Linden“
1872 errichtete der „Aktien-Bauverein Unter den Linden“ auf
dem Theatergelände in der Behrenstraße ein neues Gebäude,
das sowohl ein Theater als auch ein Hotel und ein Café enthalten
sollte. Die Aktien wurden durch viele Gerüchte in die Höhe
getrieben. Ein Jahr später – der Neubau war wegen Geldmangels
längst noch nicht fertig – gab es den „Gründerkrach“ und
aus war es mit den hochfliegenden Plänen. 1891 wurde – als
verschlankte Version – von den Wie-ner Architekten Ferdinand
Fellner und Hermann Gottfried Helmer nur das Theater errichtet.
Das „Theater Unter den Linden“ genannte Haus war ein
prunkvoller Vergnügungspalast im neobarocken Stil und wurde
an den Wiener Theater-Unternehmer Anton Ronacher verpachtet, der
mit Operetten-Aufführungen ein gutes Geschäft zu machen
hoffte. Er starb ein Vierteljahr vor der Eröffnung, die Leitung übernahmen
seine Söhne Alois und Rudolf. Neben der gängigen Operette
wurden gelegentlich auch Opern aufgeführt. Doch das Unternehmen
florierte nicht recht. Metropol-Theater
Glück beschieden war erst Richard Schultz, der das mittlerweile
geschlossene Haus renovieren ließ und im September 1898 unter
dem Namen „Metropol-Theater“ wiedereröffnete.
Von Anfang an hatte Schultz „die richtige Nase“ für
den Publikumsgeschmack. Sein Ziel war es, aus seinem Theater eine
Bühne von Weltruf zu machen und dabei möglichst auch
noch die großen Unterhaltungsbühnen von London und Paris
zu übertreffen. Das Metropol sollte zum Mittelpunkt des europäischen
Vergnügungslebens werden. Schultz erkannte, dass man in seinem
Metier – wie der Berliner sagt – „mit der Wurscht
nach der Speckseite werfen“ muss. Es durfte an der Ausstattung
nicht gespart und geknausert werden. Das Teuerste war gerade gut
genug, um richtig Geld zu verdienen. So gab er seinen Aufführungen
eine bis dahin unbekannte Ausstattungspracht, deren Reiz noch durch
ein Angebot der schönsten Sängerinnen und Tänzerinnen
erhöht wurde. Das Konzept ging auf. Das Publikum strömte
in Scharen. Sein durchschlagendster Erfolg war die von ihm kreierte
Kunstform der „Jahresrevue“. Hierin fanden alle irgendwie
zu szenischer Wirkung geeigneten jüngsten Begebenheiten der
Politik, der Kunst, der Gerichtssäle und der Gesellschaft
ihre satirische oder – dargebracht von beliebten volkstümlichen
Schauspielern – possenhafte Verwertung. Das ganze öffentliche
Leben des Jahres feierte in der Revue ein vergnügtes Auferstehen.
Gleichzeitig gelang Schultz der Aufbau eines Ensembles wie es bisher
noch kein Theater der Unterhaltungskunst besessen hatte. Seine
Stars waren Fritzi Massary und Josef Giampietro, die Ur-Berliner
Henry Bender und der rundliche Guido Thielscher. Eine glückliche
Hand bewies Schultz auch mit der Komponisten-Wahl. An der Beliebtheitsspitze
stand ohne Zweifel Victor Hollaender, den man als Hauskomponisten
des Theaters bezeichnen konnte. Auch Paul Linke, Rudolf Nelson
und Jean Gilbert komponierten erfolgreich für das Metropol.
Julius Freund war der phantasievolle Autor dieser neuen Unterhaltungsstücke.
Als er 1914 starb, gelang es Richard Schultz nicht, einen adäquaten
Nachfolger zu finden. Außerdem beschränkte der Ausbruch
des Ersten Weltkrieges die Revue-Freiheit stark. So sah sich der
Theatermacher gezwungen, dem Zug der Zeit zu folgen, und auch sein
Haus der allerorts gängigen Wiener Operette zur Verfügung
zu stellen, die damals eine neue Blütezeit erlebte. Auf die
Dauer sagte das einem waschechten Berliner aber nicht zu. Nach
25-jähriger Tätigkeit als Bühnenleiter verließ er
1919 das Metropol. Mit dem sicheren Instinkt eines überdurchschnittlichen
Theaterleiters hatte er in 20-jähriger Zusammenarbeit mit
seinem Freund und einzigen Librettisten Julius Freund das Metropol-Theater
zu einem Höhepunkt der Unterhaltungsbranche gemacht. Die erste „Komische Oper“
Zurück zur Oper, genauer zur Komischen Oper. „Berlin
bekommt eine Komische Oper!“ So lautete mit allen möglichen
Details im Mai 1904 eine verfrühte Zeitungsnachricht. „Hans
Gregor aus Elberfeld wird sie uns bringen!“ Nach einigen
Anlaufschwierigkeiten (Finanzproblemen) ließ Gregor in der
Friedrichstraße an der Weidendammer Brücke eine privat
geführte „Komische Oper“ errichten. Mit 19 Uraufführungen
und Ausgrabungen alter Werke, Buffoopern, Operetten und musikalischen
Lustspielen, Werken des Verismo und Aufsehen erregenden Aufführungen
von Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, Hugo Wolfs „Der
Corregidor“, Frederick Delius‘ „Romeo und Julia
auf dem Lande“ und Claude Debussys „Pelléas
und Mélisande“ setzte er neue Maßstäbe
im privaten Kunstbetrieb. Er wollte „Kunst ohne Konvention,
Vorurteile und Künstlereitelkeiten“. Doch das Publikum
wollte das nicht. Gregor schloss 1911 sein defizitäres Unternehmen,
ging nach Wien und wurde dort Direktor der Hofoper. Das Haus an
der Weidendammer Brücke wurde zwar weiter bespielt, allerdings
nicht mehr im Sinne Gregors. Schwänke, Lustspiele, Ausstattungsstücke – eben
das in Privatunternehmen Übliche – bedienten nun ein
anderes Publikum. Im Zweiten Weltkrieg fiel das Gebäude den
Bomben zum Opfer. Im ersten Anlauf war einer Komischen Oper in
Berlin also kein Erfolg beschieden gewesen. Während des Kriegs
Das Metropol blieb nach Schultzens Weggang der Operette treu.
Leo Fall, Eduard Künneke, Walter Kollo und Walter Bromme hießen
die neuen Haus-Komponisten. Die Namen der damaligen Gesangsstars
sind manchem heute noch geläufig: Käthe Dorsch, Gitta
Alpar. Adele Sandrock, Lizzi Waldmüller, Richard Tauber, Leo
Slezak, Max Hansen und Johannes Heesters. Mit dem Beginn der Nazi-Zeit
musste das Theater zunächst schließen, gehörte
es doch dem Theaterkonzern der jüdischen Brüder Alfred
und Fritz Rotter. Viele der berühmten Solisten wurden aus
Deutschland vertrieben. Die meisten neuen Operetten durften nicht
mehr aufgeführt werden, weil ihre Komponisten Juden waren.
Schnell wurde das Metropol dem „Kraft durch Freude“-Vergnügungsbetrieb
eingegliedert und dem Reichsminister für Volksaufklärung
und Propaganda unterstellt. Mit dem Beginn der Spielzeit 1934/35
ernannte das Propagandaministerium Heinz Hentschke, einen bis dahin
engagementlosen, aber den Nazis treu ergebenen Schauspieler, zum
Direktor. Nach seinen Ideen und Texten entstanden mehrere Operetten.
Wenige waren gut, die Mehrzahl zeigte unwahrscheinliche Handlungen
mit viel Gefühlskitsch als Vorwand für szenische Effekte.
1939 wurde dem Metropol-Theater das Theater im Admiralspalast angegliedert.
Dort hatte in den Jahren 1935 bis 1938 Walter Felsenstein verschiedene
Operetten inszeniert, dann untersagte man ihm die Weiterarbeit
in Deutschland, und er nahm ein Engagement in Zürich an. ... und die zweite...
Am 7. Mai 1944 gab es den ersten Bombenschaden im Bühnenbereich
des Metropols, am 9. März 1945 wurde durch einen erneuten
Bombenangriff auch das Vorderhaus zerstört, erhalten blieb
nur der leicht beschädigte Zuschauerraum. Das Kriegsende kam
und die sowjetische Administration ordnete die provisorische Instandsetzung
zwecks Bespielbarkeit an. Mit den Bauarbeiten begann man im Februar
1946. Nachdem der bisherige Intendant Hanns Hartmann sich unerwartet
nicht mehr blicken ließ, richtete sich das russische Interesse
auf Walter Felsenstein. Er war aus der Schweiz zurückgekehrt
und hatte im Hebbeltheater mit Jacques Offenbachs „Pariser
Leben“ bereits ein beeindruckendes Comeback gefeiert. Das
Angebot der Besatzer entzückte Felsenstein keineswegs: „Sie
traten an mich heran, aber ich lehnte ab und sagte: ,Ich bin doch
nicht dumm, alles, was aus den Trümmern zu retten war, ist
schon aufgeteilt. Wo soll ich die Leute hernehmen?‘ Nach
drei Monaten hatten sie mich weich gekriegt. Das bereits für
das Metropol-Theater im Wiederaufbau befindliche Haus wurde umfunktioniert
in die ‚Komische Oper‘, die ich dann nach langem Zögern
gegründet habe.“ Walter Felsenstein
Was so zögerlich und mit vielen Vorbehalten begann, sollte
die innigste Verbindung zwischen einem Intendanten-Regisseur, seinem
Ensemble und dem Publikum werden, die es je in Berlin gegeben hat.
Felsenstein wusste alle Beteiligten für seine Ideen zu begeistern.
Seine Leistungen waren so überzeugend, dass man die Komische
Oper bald nur noch „Felsenstein-Oper“ nannte. An die
künstlerische Programmatik der Pariser Opéra-Comique
und die progressiven Bestrebungen Hans Gregors anknüpfend,
stellte sich der Vollblutregisseur der Aufgabe, wie er sie im Programmheft
der Eröffnungspremiere mit Strauß’ „Fledermaus“ am
23. Dezember 1947 beschreibt, „die künstlerisch erlesensten
und zugleich volkstümlichsten Werke des internationalen Musiktheaters
aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft im wechselnden
Spielplan zu pflegen“.
Schon die Eröffnungs-„Fledermaus“ wirkte wie eine
Sensation: geistvolles Komödienspiel und beschwingtes Musizieren,
wie man es auf der Bühne bisher bei dieser klassischen Operette
noch nicht erlebt hatte. Bei der „Carmen“-Inszenierung
1949 wurde erstmals konsequent und vollständig die Urform
des Werkes, befreit von allen Banalisierungen und Entstellungen,
aufgeführt und ein Beispiel grundlegender dramaturgisch-textlicher
Erneuerung gegeben. Durch die musikalische Einstudierung von Otto
Klemperer gewann die Aufführung einen besonderen Rang. Ein
Jahr später leitete „Figaros Hochzeit“ die Erarbeitung
der wichtigsten Mozart-Opern ein. Mit der „Verkauften Braut“ und
dem „Freischütz“ wurden zwei populäre Volksopern
gleichsam neu entdeckt. Die Inszenierungen von Mozarts „Zauberflöte“,
Leos Janáceks „Das schlaue Füchslein“,
Giuseppe Verdis „Othello“ und „La Traviata“ und
die gründliche Erforschung des Quellenmaterials zu Jacques
Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ gehörten
zu den Höhepunkten seiner Arbeit, die durch Gastspiele ins
Ausland getragen wurde. Der Sänger als Mensch
Felsensteins Konzept eines realistischen Musiktheaters ist das
der Einheit von Handlung, Darstellung und Musik. Wort und Musik
bedingen und durchdringen sich gegenseitig. „Musik, die
nicht aus dem dargestellten Vorgang wächst, hat nichts mit
Theater zu tun, und eine Darstellung, die sich nicht präzise
und künstlerisch gültig mit der Musik identifiziert,
sollte besser auf Musik verzichten“, war einer seiner häufig
propagierten Grundsätze. Der Sänger war für Felsenstein
kein Kehlkopfakrobat mehr, sondern ein Mensch, der mit der darzustellenden
Figur schöpferisch verschmilzt und mit der sich der Zuschauer
identifizieren kann. Der Begriff „Wahrheit“ spielt
in seinen zahlreichen musiktheoretischen Schriften eine zentrale
Rolle. Im Sinne der Verständlichkeit wurde und wird auch
noch heute an der Komischen Oper ausschließlich in deutscher
Sprache gesungen. Das erinnert an das deutschsprachige Nationaltheater
des 18./19. Jahrhunderts. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass solche konzeptionellen
Grundlagen ein intaktes Ensemble voraussetzen. Eine Bühne für Reisestars
war das Haus nie. Sängerpersönlichkeiten, die das Musiktheater
Felsensteins prägten, waren: Irmgard Arnold, Ingrid Czerny,
Melitta Muszely, Rudolf Asmus, Hanns Nocker, Werner Enders und
Anny Schlemm. Der spätere Intendant der Deutschen Oper Berlin,
Götz Friedrich, ging als Regieassistent und Oberspielleiter
an der Komischen Oper durch die Felsen-stein-Schule und nahm viel
von dem hier Erlernten an die Bismarckstraße mit.
1965/66 wurde das Haus von dem Architekten Kunz Nierade umfassend
rekonstruiert und erweitert. Dabei stellte er den 1.032 Plätze
umfassenden Zuschauerraum und das Haupttreppenhaus originalgetreu
wieder her und bezog sie in den neuen, mit Sandsteinplatten verkleideten
kompakten Baukörper ein. Darin liegt der besondere architektonische
Reiz: In einem modernen, schmucklosen und glattwandigen Kubus ruht
ein reich verzierter Zuschauerraum der Wilhelminischen Epoche.
Wer das Theater zum ersten Mal besucht, kommt aus dem Staunen nicht
heraus. Ende einer Ära
Am 8. Oktober 1975 starb Walter Felsenstein. Das Ensemble stand
vor der Aufgabe, das Theater im Geist seines Gründers fortzuführen
und die Erwartungen der Öffentlichkeit nach „wahrhaftem
Musiktheater“ auch weiterhin zu erfüllen, ohne in
die Gefahr zu geraten, zu einem Felsenstein-Museum zu erstarren.
Die Nachfolger des legendären Theatermachers haben diesen
Spagat bestens bewältigt. Sie sind, ohne auf die zeitgemäße
Fortentwicklung und die persönlichen Handschriften der verschiedenen
Künstler zu verzichten, dem Erbe treu geblieben: Werktreue
im strengsten und zugleich weitesten Sinne; realistische, weil
der Wahrheit verpflichtete, auf das Leben bezogene Darstellung;
Singen aus der dramatischen Situation heraus als notwendiger
und glaubhafter Ausdruck; geistige Durchdringung des Werkes durch
jeden einzelnen Interpreten.
Die Königliche Oper, das Schauspielhaus, die Staatsoper, die
Charlottenburger Oper, die Komische Oper, die Privattheater, sie
alle prägten und prägen das Kulturleben der Stadt Berlin.
Unendlich viel Interessantes, Wissens- und Erstaunenswertes, Amüsantes
und Ärgerliches gibt es darüber zu berichten.
Frei nach Bertholt Brecht ließe sich abschließend sagen:
„Hier stehen wir nun und sind betroffen,
der Vorhang zu und manche Fragen offen.
Verehrtes Publikum, los such Dir selbst den Schluss.
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss.“
Susanne Geißler
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