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Wer sich nicht umdrehen darf ...
Glucks „Orfeo ed Euridice“ in Gera · Von Frieder
Reininghaus
Was ein Opernchor leisten
kann, ist exemplarisch bei der Rekonstruktion der „Parma“-Fassung
von Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ zu sehen. In Gera
und Altenburg sind die Choristen nicht nur beim oberirdischen Anfang an der Bar
ganz sie selbst und von heute, sondern mutieren konsequent zu Furien der Tiefe – zu
scharfen Disco-Furien, die teilweise auch heiß tanzen. Dann mutieren sie
zu seligen Geistern, die auf anschauliche Weise verschiedene Formen von seliger
Liebe pflegen. Im Ganzkörpereinsatz. Sie sind als Ensemble von Individuen
inszeniert, alles andere als uniforme Masse (wie sie gerade als Gluck‘sche
Furien oft gezeigt wurden): Manche trinken, manche koksen, gaffen, fummeln, manche
mögen’s quick. Und bleiben dabei doch zuvorderst Musiker, die mit
dem in der Mitte vor der breitgezogenen Spielfläche postierten kleinen Orchester
genau korrespondieren.
Bernhard Ott, ihr Maestro, hat
die Partitur nutzbar gemacht, die zwischen der „Wiener Fassung“ (1762)
und der ultimativen Pariser Version (1774) entstand. Seit mehr als 40 Jahren
war die Veröffentlichung in Aussicht gestellt, aber die an dieser Arbeit
sitzenden, teilweise hochdekorierten Musikforscher waren dazu nicht in der Lage.
Jetzt erwies sich der Handstreich als Glücksgriff: Christoph Willibald Gluck
selbst fertigte für die Feierlichkeiten zur Hochzeit der habsburgischen
Erzherzogin Maria Amalia mit dem spanischen Infanten in Parma eine Kurzfassung
von „Orfeo ed Euridice“. Diese wurde am Teatro di Corte als dritter
Akt in die „Feste d’Apollo“ eingebracht – der Beitrag
musste so knapp bemessen sein, damit die hohen Herrschaften auch noch zum Tafeln,
Tanzen, Trinken und den anderen anstehenden Vergnügungen kommen konnten.
In dieser Version wirkt das Werk mit seinen edel-elegischen und elysisch-eloquenten
Längen keinen Augenblick mehr länglich.
Die „Bühne am Park“ wurde
in Gera vor einem Jahr als vielseitig zu nutzender Theaterneubau eingeweiht.
Dort, auf den in die Breite gezogenen Podesten, etablierte Wolfgang Reuter eine
Hotelbar, Spiegel und Garderobe mitsamt Ausblick auf ein wolkiges blaues Nirwana.
Regisseur Florian Lutz lässt Euridice erst einmal einen Abschiedsbrief schreiben.
Dann kommt ein Dirigent – die einzige kulturgeschichtlich bedeutsame Figur
neben Orpheus und Lot, die zum Gelingen ihrer Unternehmung bei dieser den Blick
nicht nach hinten wenden darf. Der Pultlöwe nimmt die Sache mit der Ouvertüre
in die Hand: Es ist der Tänzer Norbert Pape, der dem/der Orfeo Gerlinde
Illich sehr ähnlich sieht und als Alter Ego begleitet. Diese Introduktion
spielt auf ein Pariser Traktat des Abbé François Arnaud an. Er,
der „Saint Paul du culte de Gluck“, ließ 1774 einen vergegenwärtigten
Orpheus im Diskurs mit Lully und Rameau als Kapellmeister auftreten und die Kollegen
belehren, dass es die Gegenwart mit sich bringe, „alles in die größere
Bewegung zu setzen“. Auch im Weiteren beherzigt
die Inszenierung konsequent diesen zweckdienlichen Hinweis. Sie reflektiert,
dass im Kontext der Musik der Dirigent die Macht besitzt, „diese oder
jene Stimme plötzlich zum Leben zu erwecken – durch eine ganz
kleine Bewegung“ (E. Canetti). Doch gerade die engen Grenzen dieser
Befehlsgewalt führt Papes Pantomime anschaulich vor. Der „Reigen
seliger Geister“ ist eine weinselige Tanzeinlage (Orfeo verkraftet
den Abstieg nur, indem er sich die Kante gibt). Und auch die verblichene
Euridice braucht ihr Schlückchen – immerhin fragt sie ja auch
bei Gluck, als sie in den Versuch wieder eingeführt wird, ob sie nicht „im
Delirium“ sei. Da zittert das eiskalte Händchen dann doch ein
wenig. Und sie zerdeppert eine Flasche in ihrer Verzweiflungswut, mit deren
Scherben sich Orfeo die Halsschlagader zu öffnen beginnt. Das festliche
Finale bedarf des rettenden Engels mit den weißen Stutzflügeln: „Nicht
verzagen – Amore fragen!“
Florian Lutz gehört zu den Erben der Regietheater-Pioniere,
die sich die Zeit nehmen, Stücke zu suchen,
in deren Historizität sich aktuelle Probleme ohne (psychoanalytische)
Verrenkungen zeigen lassen. Sie studieren diese Werke dann hinreichend sorgfältig
und interpretieren sie – vor allem ihr singendes Personal – akkurat.
So hat Lutz es schon mit der „Gelben Prinzessin“ von Camille Saint-Saëns
an der Neuköllner Oper gehalten, und, gleichfalls in Berlin-Neukölln,
mit frisch medial aufgemöbelter „Gelegenheit macht Diebe“ von
Rossini. Das deutsche Stadttheater ist also doch immer wieder für eine Überraschung
gut. Offensichtlich eher an den Rändern als in den Zentren.
Frieder Reininghaus
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