Verstörende Weltuntergangsoper
Zimmermanns „Die Soldaten“ bei
der RuhrTriennale · Von
Christian Tepe
Was heute vielfach als chic
gilt, die Anreicherung von Operninszenierungen durch Videoeinspielungen, war
zum Zeitpunkt der Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Opus Magnum „Die
Soldaten“ noch fast eine revolutionäre Tat. In der Kaffeehausszene
des vierten Akts schreibt der Komponist die synchrone Verwendung von drei Filmen
vor. Die Erniedrigung und Demütigung der Protagonistin Marie soll nicht
nur akustisch, sondern zugleich visuell als Emblem für die Schändung
der ganzen Menschheit erfahren werden. Dahinter steckt die Idee von der Kugelgestalt
der Zeit: der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als einem
einzigen Cluster des Grauens. Allein es ereilt das eherne Gesetz des „tempus
fugit“ auch dieses Werk der Avantgarde. Der Zeitkern der Multimedia-Konzeption
beginnt sich zu entblättern, denn das von Zimmermann bemühte Werkzeug
Film ist inzwischen von einer ästhetischen Produktivkraft zu einer Agentur
eben jenes Horrors entwertet, den es bei Zimmermann noch zur einsichtsvollen
Darstellung bringen sollte. Ob harmloser Serienkrimi oder Gewalt verherrlichende
Videospiele: Mit geheimem oder offenem Einverständnis verkünden die
bewegten Bilder überall den Triumph der totalen Verdinglichung des Menschen.
Für seine „Soldaten“-Inszenierung in der Bochumer
Jahrhunderthalle zieht David Pountney daraus die richtige Konsequenz
und verzichtet komplett auf filmische Illustrationen. Keine ästhetische
Distanz, kein sedierendes Leinwandflimmern schiebt sich zwischen die Sänger
und Akteure auf der einen und das Publikum auf der anderen Seite, während
in der Vergewaltigungsszene auf einem langen Laufsteg unmittelbar vor den
Augen der Betrachter die feine Männergesellschaft über Marie und
ihre Doubles zum stählernen Rhythmus der Musik herfällt. Die Zuschauer
wissen nicht mehr, ob sie hinsehen können, wollen oder müssen.
Sie verlieren sogar ihren Orientierungssinn, da plötzlich die mobilen
Zuschauertribünen auf unsichtbaren Schienen zu fahren beginnen. Das
Publikum ist unfähig zu unterscheiden, was und wer sich eigentlich bewegt:
die Spielfläche, die gegenüberliegende Tribüne, die eigenen
Sitzreihen oder die ganze Hallenkonstruktion auf einmal. Es ist eine aus
den Fugen geratene Welt im Sturz der unaufhörlichen Massenvergewaltigung.
Was das Werk an technischen Wirkungsmöglichkeiten in Gestalt
aufwendiger Filmprojektionen eingebüßt
hat, gibt ihm die genialische Raumnutzung der ehemaligen Industriehalle durch
Pountney und Robert Innes Hopkins (Bühne) um ein Vielfaches zurück.
Erstmals wird die Forderung des Komponisten nach dem „omni-mobilen, absolut
verfügbaren architektonischen Raum“ erfüllt. Mehr noch: An
diesem Abend wetterleuchtet durch die Jahrhunderthalle etwas von Zimmermanns
Theaterutopie eines „Weltraumschiffes des Geistes“.
Auch die Bochumer Symphoniker unter GMD Steven Sloane nutzen souverän
die einzigartigen Möglichkeiten,
die ihnen dieser Aufführungsort im Vergleich zu konventionellen Opernhäusern
bietet. Für die auf mehrere bewegliche Podien verteilten Musikergruppen
wird das Intermezzo des zweiten Akts zum Prüfstein. Es vertritt den Modellfall
des an der Philosophie von der Kugelgestalt der Zeit orientierten Kompositionsverfahrens,
das Zitate aus verschiedenen, weit auseinanderliegenden Stilschichten zu einem
Panorama der Passionsgeschichte der Menschheit integriert. Profilgenau und
hochgradig brillant gelingt Sloane die Klangregie im Spannungsfeld zwischen
der Transparenz der auch metrisch separierten Detailschichten und der inneren
Einheit der musikalischen Gesamthandlung. Insgesamt frönen die Symphoniker
einer der barocken musikalischen Statur Zimmermanns durchaus angemessenen Freude
an sinnlicher Klangprachtentfaltung, wobei die Musiker gelegentlich der Neigung
zum Auskosten ‚schöner Stellen’ auch dort nicht ganz widerstehen
können, wo Zimmermann äußerste Dezenz wünschte.
Moderne Opern vom Format
der „Soldaten“ legen Reflexionen über Möglichkeiten und
Grenzen der Musikkritik nahe. Welcher Hörer vermöchte – Hand
aufs Herz – über jeden Takt, über jede Note Rechenschaft abzugeben?
Und doch gewinnt man die Überzeugung von einer letztmöglichen Annäherung
aller Solisten an Buchstaben und Geist der Partitur. Die überragende Artistin
beim akrobatischen Seiltanz der extremen Intervallsprünge und intrikaten
Rhythmen ist Claudia Barainsky als Marie. Am Ende dieser zutiefst verstörenden
Weltuntergangsoper steht freilich keine vokale Verklärung des Opfers.
Was bleibt, ist allein die geistige Befreiung vom Unvermeidlichen durch dessen
Kenntlichmachung.
Christian Tepe
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