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Eine querständige Grisélidis
„Grisélidis“: Massenet-Ausgrabung in Lübeck · Von
Peter Dannenberg
Auch dies, kaum begreiflich,
gibt es also noch: die deutsche Erstaufführung einer Oper von Jules Massenet,
die zwar nicht zu seinen drei oder vier Chefs d’Oeuvres zählt, aber
in den französischen Theatern und Plattenkatalogen gelegentlich doch immer
wieder einmal auftaucht. Marc Adam, der aus dem Elsass stammende, in Kürze
nach Bern wechselnde findige Leiter der Lübecker Bühnen, beendete seinen über
Jahre gestreckten Massenet-Zyklus jetzt mit „Grisélidis“,
der sehr französischen, eigenwilligen Metamorphose des alten Griselda-Mythos
von der unerschütterlichen Gattenliebe und Treue, der schon etliche barocke
Komponisten, unter ihnen Vivaldi und Alessandro Scarlatti, zu Werken für
das Musiktheater animiert hat.
Im Werkkatalog von Massenet
steht „Grisélidis“ zeitlich zwischen „Cendrillon“ und
dem „Jongleur de Notre Dame“ – und sie hat von beiden etwas:
den träumenden, flirrenden Märchenzauber der einen wie die religiöse
Inbrunst der anderen Oper. Die Uraufführung an der Opéra Comique
fand 1901 wenige Monate vor dem „Pelléas“ statt, auch sie
von André Messager dirigiert, und ähnlich einer Mélisande
findet Grisélidis, wie aus dem Nichts kommend, auf die Szene: unnahbar,
fremdartig, fragil und doch fest, ein reines Geschöpf der Natur, besungen
von einem bukolischen Schäfer mit schwärmerischem Tenor (Edgardo
Zayas) und rasch nun angetraut dem Marquis, dem das Land gehört. Chantal
Mathias ist hier eine Idealbesetzung: klar und voller Emotion, kraftvoll, aber
ohne jeden aufgesetzten Überschwang. Die Märchenwelt löst sich
in den hochimaginativen, aus jeder Realität heraustretenden Bühnenräumen
von Markus Meyer immer wieder zwischen Zweigen und Bäumen und verschimmernden
Weiten auf und lässt am Ende sogar den Himmel herein, wenn die Heilige
Agnes unter andächtig beschwörenden Chören Grisélidis
mit Gatten und Kind nach allen Versuchungen gerettet in eine glückliche
Zukunft entlässt. Jakob Peters-Messer, der Regisseur, hat diese unschuldige
Legende behutsam und bilderreich aufgeblättert, ohne ihre rührende
Selbstgewissheit anzutasten und auch ohne ihre direkten Gefühle zu bagatellisieren.
Die Gegenwelt ist die Hölle,
der Teufel persönlich, nichts weniger. Ein Mephistopheles nach Gounod’schem
Zuschnitt (Laurence Gien) etabliert sich, doch bar jeder gefährlichen
Dämonie, komisch erst, aber bald lächerlich wie im Kasperletheater – eine
armselige Figur von mechanistisch ratternder, offenbachischer Musik karikiert.
Seine Wette um die Treue der Frau geht so fehl, dass er sich nur noch mit der
Entführung des Kindes vergebens zu helfen sucht.
Der verführerische Reiz der Oper liegt jenseits dieser buffonesken Szenen
in der eigentlichen Welt des Werkes, im empfindungsreichen Chargieren seiner
Stimmungen, dem flexiblen, unaufdringlichen Farbenreichtum und der Raffinesse
des instrumentalen Teppichs, in dem die Holzbläser bestimmende Akzente
zu setzen haben. Das Parfum duftet dezenter und weniger sinnlich als sonst
meist bei Massenet. Ohne Bruch zwischen Arienhaftem und Rezitativischem zieht die
Musik wie ein Sog voran in das mächtig
schwellende Finale mit Allelujah und Magnificat. Der Dirigent Frank Maximilian
Hube arbeitet das alles mit vielfarbenen Valeurs heraus. Bestätigt und
beglaubigt wird mit dieser Aufführung Massenets hierzulande so spät
entdeckte Opernerzählung mit dieser zu seinem übrigen Schaffen so
querständigen Frauengestalt, und bestätigt wird eines mehr noch:
der Repertoirereichtum mancher unserer mittleren Bühnen, die, vom Publikum
durchaus gestützt, der Spielplan-Monokultur vieler unserer großen
Häuser Entdecker-Phantasie entgegensetzen und dadurch nicht geringen künstlerischen
Gewinn ziehen. Lübeck hat, nicht nur im Bereich französischer Musik,
dafür in den vergangenen Jahren manch nachahmenswertes Beispiel gegeben.
Peter Dannenberg
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