Musiktheater ist, wenn...
Kolloqium „Realistisches Musiktheater“ in Berlin · Von
Daniel Honsack
Die Geschichte der Komischen Oper Berlin in der Behrenstraße
(vgl. S. 13 dieser
Ausgabe) ist eng mit dem Namen Walter Felsenstein
verknüpft. Ihm verdankt sie ihre Gründung ebenso wie
ihre erste Blüte. Felsenstein prägte eine eigene Schule
der modernen Opernregie, viele seiner Inszenierungen wurden als
modellhaft gesehen. Mit der Komischen Oper war es ihm gelungen,
sich weitestgehend die Arbeitsbedingungen zu schaffen, die er für
die Umsetzung seiner Vorstellungen benötigte. Die gleichberechtigte
Kommunikation zwischen Text und Musik war ihm zwingend notwendiges
Gebot. „Musiktheater ist, wenn eine musikalische Handlung
mit singenden Menschen zur theatralischen Realität und vorbehaltlosen
Glaubhaftigkeit wird“, so sagte er einmal. Damit orientierte
er sich an den Vorstellungen des Theaterreformers Konstantin Stanislawski.
Zu seinen unmittelbaren und indirekten Schülern zählen
Joachim Herz, Götz Friedrich und Harry Kupfer.
Fossilienkunde
Die Freie Universität (FU) Berlin und die Komische Oper machten
nun Person und Werk Felsensteins zum Ausgangspunkt eines zweitägigen
Kolloquiums unter dem Titel „Realistisches Musiktheater – Geschichte,
Erben, Gegenpositionen“ in Berlin. Ausgehend vom legendären
Regisseur wurde bei dieser Veranstaltung lebhaft über Konsequenzen
aus seiner Arbeit und deren Auswirkungen auf heutige Inszenierungen
debattiert. Hierzu waren zahlreiche renommierte Theatermacher,
Fachautoren und Wissenschaftler eingeladen worden, die aus ganz
unterschiedlichen Blickwinkeln heraus ihren Beitrag zur Diskussion
leisteten, die breit zwischen theoretischen Konstrukten und praktischer
Anschauung gestreut war.
Insbesondere die Beiträge von Joachim Herz brachten neben
anekdotischen Schilderungen zahlreiche inhaltliche Aspekte zutage,
die Felsenstein auch unter heutiger Betrachtung sehr aktuell erscheinen
ließen. Herz kam 1953 als Assistent für Felsensteins „Zauberflöten“-Inszenierung
an die Komische Oper, prägte zwischen 1959 und 1976 als Operndirektor
die Musiktheater-Aufführungen in Leipzig, um von 1976 bis
1981 als Intendant an die Komische Oper zurückzukehren. „45
Minuten Fossilienkunde“ nannte er launig seinen Eröffnungsvortrag,
der dann doch so viel mehr werden sollte. „Ich habe den Begriff des realistischen Musiktheaters von
Felsenstein nie gehört“, stellte er gleich zu Beginn fest. Vielmehr
sei es Felsenstein stets um ein „nachvollziehbares Verhältnis
zwischen Text, Musik und Aktion“ gegangen, betonte er. Ein
Ziel sei es dabei gewesen, „die Wahrheit des menschlichen
Vorgangs“ zu vermitteln. Dabei habe er auch nie vor Eingriffen
in die Musik zurückgeschreckt. „Auf der Bühne erwarten
wir die Sinnsuche, weil uns das im Leben nicht mehr passiert“,
gab er nicht zuletzt mit Blick auf aktuelle Inszenierungen zu bedenken.
Dabei gehe es nicht immer darum, ein Werk möglichst zeitgemäß oder
möglichst historisch zu deuten. Die Grundlage sieht Herz woanders: „Wir
müssen versuchen, ein Werk, das es schon gibt, für Menschen
von heute lebendig zu machen.“ Irrealität als Chance
Dabei ist die Wahl der Mittel genau zu erwägen. Auch Jens
Roselt, Geschäftsführer des Sonderforschungsbereiches „Kulturen
des Performativen“ an der FU gab in seinem Beitrag zu bedenken: „Eine
realistische Deko allein macht noch kein realistisches Theater.“ Robert
Sollich, Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich „Ästhetische
Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, ging
auf ein Gegenmodell zu Felsensteins Erben ein.
„
Realistisches Musiktheater war das, was der Fall war“, brachte
Sollich seine persönlichen Erfahrungen aus den 80er-Jahren,
der Epoche seiner eigenen Opernsozialisation, zu Protokoll. „Peter
Konwitschny ist von der Grundtendenz her anti-illusionistisch“,
versuchte er eine Einschätzung. Dabei nahm er etwa auf Konwitschnys
Wozzek-Inszenierung von 1998 an der Hamburgischen Staatsoper Bezug,
in der dieser vollständig auf Kulissen und Kostüme verzichtete. „Bei
ihm tritt der Darsteller wieder hinter seiner Rolle hervor“,
konkretisierte Sollich auch den Gegensatz zu Felsenstein. Schließlich
könne Oper „produktive Reibungen zwischen Gesehenem
und Gehörtem“ riskieren.
Auch damit könne es gelingen, ein Publikum aus seiner Lethargie
aufzuwecken. Sollich will die „Irrealität nicht als
Manko, sondern als Chance“ verstanden wissen: „Die
verkehrte Welt könnte die bessere sein“, gibt er zu
bedenken.
Daniel Honsack
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