Ein unerhört gutes Buch
Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten
Kunst. Erweiterte und aktualisierte Auflage, 869 Seiten, gebunden,
mit Schutzumschlag. Zahlreiche Abb. und Notenbeispiele. Kassel etc.
(Bärenreiter) 2004, 64 Euro, ISBN 3-7618-1596-4
Volker Klotz‘ Operettenkompendium ist eines jener Bücher,
von denen man sich fragt, wie Generationen Interessierter ohne sie
ausgekommen sind. Als der Autor es vor dreizehn Jahren in erster
Auflage veröffentlichte, füllte er damit nicht einfach
eine Lücke im musikpublizistischen Bereich, er hob den Diskurs
über eine eher belächelte Gattung auf eine neue Stufe,
die wissenschaftlichen Anspruch mit einer bewundernswerten Lesbarkeit
verband. Bei so manch liebloser Inszenierung samt hingeschluderter
Partitur dürfte es vergnüglicher sein, Klotz‘ Werkkommentar
zu lesen, als die Operette zu sehen und zu hören. Um genau
das zu verhindern, ist Klotz freilich angetreten, und im Gegenzug
ist zu vermuten, dass der ein oder andere Dramaturg, die ein oder
andere Regisseurin Elemente ihres Zugriffs auf ein Stück der
Lektüre dieses Buches zu verdanken hatte.
Dabei muss man Klotz‘ dezidierte Werturteile und die zugrunde
liegende Argumentation nicht teilen, um seine Charakterisierungen
mit Gewinn zu lesen. So schlüssig sich seine Gegenüberstellung
von „Offenbachiade“ – sein Idealbild einer Operette
– auf der einen und dem „Wegweiser für die Abwege
der Gattung“ auf der anderen Seite auch liest (die „Großherzogin
von Gerolstein“ steht exemplarisch für die gepriesene,
der „Zigeunerbaron“ für die gescholtene Ausprägung),
so sehr nutzt sich die immer wieder bemühte Kausalkette ab:
Die gute Operette ist die Widerständige, die bürgerliche
Konventionen und politische Zustände ironisiert, persifliert
oder gar anarchisch ins Gegenteil verkehrt; die schlechte fügt
sich den Herrschaftsformen, rückt die gesellschaftliche Ordnung
wieder zurecht, beschwichtigt, glättet.
Der Stringenz seiner Methode an sich kann man sich dennoch nicht
entziehen, weil sie die Qualitäten eines die Libretti scharf
analysierenden Literaturwissenschaftlers mit der Kompetenz eines
Kenners zusammenbringt, der mit wenigen treffenden Beobachtungen
die Funktionen und Eigenheiten einer musikalischen Nummer zu charakterisieren
weiß. Die zahlreichen Notenbeispiele erhöhen die Anschaulichkeit
entsprechend. Wie überhaupt die Ausstattung des opulenten Bandes
keine Wünsche offen lässt, wobei die Zahl der hervorragend
reproduzierten farbigen Titelblätter sich gegenüber der
letzten Taschenbuchversion (Piper, 1997) verdoppelt hat. Erweitert
wurde auch die Liste der im zweiten Teil einzeln porträtierten
Werke (um 21, darunter zehn neue Komponisten), weggefallen ist leider
die kommentierte Bibliografie.
So steht neuerlichen Ausgrabungen und Neubewertungen von Stücken
nichts mehr im Wege. Möge dieses unerhört gute Buch weiter
Gehör finden!
Juan Martin Koch
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