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Oper auf der Baustelle
Claudio Monteverdis „Orfeo“ in Darmstadt ·
Von Rotraut Fischer
Eine fröhliche Hochzeitsgesellschaft zieht durch den Zuschauerraum
zur Bühne, wie man sie auch vor dem berühmten Hochzeitsturm
auf der Darmstädter Mathildenhöhe sehen kann: eine Art
mobiler Sektempfang für die Horde der Gleichaltrigen. In pastellfarbenen
Gewändern gesellen sie sich auf dem demonstrativ lichtgrünen
Rasen zueinander und feiern das Brautpaar; über allem schwebt
„ungeheuer oben“ ein Wölkchen im Azur. So ist das
Leben, wenn man es schön träumt. Doch ahnt man schon das
Verhängnis, das als gut kostümiertes Reptil, die Rechte
zum Schlangenkopf mutiert, die Szene umlauert. Die Botin (Elisabeth
Hornung in schwerem, vollklingendem Mezzo) stürzt denn auch
herein mit der erwarteten Nachricht, die Szene unwiderruflich mit
einem schwarzen Flor überziehend. Dahinter wird bald ein vielleicht
allzu harmlos wirkendes Totenreich sichtbar, begrenzt nur durch
das grüne Band des mythischen Flusses. Davor wacht der schläfrige
Fährmann (Dimitry Ivashchenko), der unter Orpheus‘ Gesang
denn auch bald entschlummert und so den Weg frei macht. Als Plutone
tritt Tito You auf, mit klarem, geschmeidigem Bass die „Doppelzüngigkeit“
seiner Rolle unterstreichend, und siehe, er ist das todbringende
Reptil selbst, oder umgekehrt, der Herr der Unterwelt bringt selbst
das Verderben, das auf diese Weise mit dem Tod gleichgesetzt wird;
in jedem Fall aber ist die „Doppelrolle“ eine sinnfällige
Eingebung der Regie. Proserpina, gesungen von Andrea Bogner mit
hellem, schmeichelndem Sopran, gelingt es zwar scheinbar, für
Orpheus und seine Geliebte zu bitten, doch spricht die gespaltene
Zunge des Ungeheuers eine andere Sprache. Und so nimmt das Verhängnis
seinen Lauf: Orpheus schaut sich um, teils aus Misstrauen gegenüber
den dunklen Mächten, vor allem aber, weil er nicht anders kann.
Und wir dürfen uns wieder die alte Frage stellen: Wäre
seine Liebe zu Eurydike glaubwürdig, wenn er sich nicht umgeschaut
hätte, wäre der Sieg dieser Liebe über die Mächte
des Todes so zu nennen, wenn Orpheus stur geradeaus gegangen wäre?
Auf jeden Fall wäre der Kasus gänzlich unpoetisch gewesen.
Und so bleibt noch ein letztes, die Apotheose des Orpheus, bewerkstelligt
durch Apollo (Jordi Molina Davila), den barocken Deus ex Machina.
Doch nimmt der Gott den Sänger nicht mit, sondern stellt ihn
auf den Sockel der Unsterblichkeit als Denkmal seiner selbst, des
liebenden Sängers und der Musik.
Diese Musik von Monteverdis Genie ist für uns, die wir an
volltönende Opulenz gewöhnt sind, vielleicht spröder
als sie für die Zeitgenossen gewesen sein mag. Wir hören
dafür Oper in nuce und auch noch manchen Reigen im Rhythmus
früherer Musik an der Schwelle zum Barock. Das Verdienst des
Orchesters unter Generalmusikdirektor Stefan Blunier ist es, diesen
Eindruck nicht abgeschliffen, sondern ihn mit der eigenen Melodik
der Komposition verbunden und zu einem besonderen Hörerlebnis
verschmolzen zu haben. Die Spannung zwischen unseren Sehgewohnheiten
und der relativen Statik der alten Oper wurde dagegen von der Regie
aufgenommen. Durch szenische Dynamik bringt sie Bewegung in die
ausladende Rhetorik der Rezitative. Leichtigkeit war auch das Motto
der Akteure, die Stimmen von Eurydike (Julia Amos) in hellem Sopran,
Orpheus vielleicht allzu leicht und in den tieferen Partien weniger
klangvoll. La Musica, gesungen von dem Countertenor Gerson Luiz
Sales, stimmte das Publikum überzeugend ein.
So bot John Dew mit seinem Ensemble, das unter erschwerten Bedingungen
in einem Gebäude arbeitet und auftritt, das gerade saniert
wird, den Darmstädtern einen gelungenen Opernabend und machte
ein Meisterwerk der Musikgeschichte zu einem Genuss für Auge
und Ohr; er kam dem heutigen Publikum ein Stück entgegen, ohne
jedoch die historische Distanz zu tilgen, die uns vom Musizieren
zu Monteverdis Zeiten trennt.
Rotraut Fischer
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