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Singen lernt man nur durch Singen
Fachtagung Chor der ZBF in Köln · Von Nikolaus Kuhn
Es traf sich gut, dass die Zentrale Bühnen-, Fernseh- und
Filmvermittlung (ZBF) der Bundesagentur für Arbeit zu ihrer
„Fachtagung Chor“ nach Köln am 15. November, also
einen Monat nach der Bundesversammlung der VdO in Halle, eingeladen
hatte: Die lebhafte, teils sogar stürmische Diskussion zwischen
den Vertretern der Gesangsausbildungs-Einrichtungen einerseits,
den Praktikern des Chorwesens andererseits, glich einer Fortsetzung
der entsprechenden Debatten auf der Bundesversammlung, als die dort
versammelten VdO-Delegierten das Statement des Professors an der
Hochschule für Musik und Theater in Hannover, Matthias Remus,
der eine heile Welt deutscher Gesangsausbildung vorstellte, erst
zu hinterfragen, dann zu zerpflücken begannen. Hätte ihm
Prinzessin Turandot das Rätsel aufgegeben, wie es denn zu erklären
sei, dass bei den Rundfunkchören mit derzeit (noch) rund 350
Stellen, bei den Opernchören mit derzeit (noch) rund 3.000
Stellen – unbeschadet aller Chorverkleinerungen – akuter
Nachwuchsmangel herrsche, obschon jährlich rund 300 ausgebildete
Konzert- und Opernsänger/-innen die 33 deutschen Musikhochschulen
und Konservatorien verlassen, er wäre wie der junge Prinz von
Persien in Puccinis Oper bei Mondaufgang geköpft worden, weil
er die Frage nicht beantworten konnte. Da die VdO nicht in der „violetten
Kaiserstadt“, sondern in Halle tagte, konnte er unbehelligt
nach Hannover zurückreisen.
Mangelnde Beratung
Kerstin Holdt, die Leiterin des Bereichs Musiktheater der ZBF,
hatte dem Fachforum das Thema „Rundfunk- und Opernchorsänger
– Arbeitsmarkt und neue Ausbildungswege“ aufgegeben;
Heiner Gembris, Professor für empirische Musikpädagogik
und –psychologie an der Universität Paderborn, hielt
den Einleitungsvortrag, in dem er die Ergebnisse seiner Langzeitstudie
über Gesangs-Hochschulabsolventen vorstellte (unter dem Titel
„Gesangsstudium – und was dann?“ nachzulesen in
„Oper & Tanz“, Ausg.
4/2004, S. 8ff.). Seine Kernaussagen, dass zwar 84 Prozent der
Absolventen ihre Hauptfachbetreuung mit sehr gut bis befriedigend
bewerteten, aber 72 Prozent die konkrete Berufsvorbereitung (Karriereberatung)
als schlecht bis sehr schlecht klassifizierten, offenbar nur ein
knappes Drittel der Absolventen überhaupt einen ausbildungsadäquaten
Arbeitsplatz fände, provozierten die Musikhochschulen. Josef
Protschka, Rektor der Musikhochschule Köln und selbst Sänger
(Tenor), verteidigte sie eloquent mit den Hinweisen auf die soziokulturelle
Problematik: Es sei das „bodenständige Singen“
seit Militarismus und Nationalsozialismus desavouiert, der Stellenwert
der musischen Bildung werde immer kleiner und die Hochschulen seien
gar nicht in der Lage, die aus Elternhaus, Kindergarten, Vorschule,
Schule und Gymnasien herrührenden Defizite in den durchschnittlich
acht Semestern Studienzeit auszugleichen. Die Kölner Hochschule
werde aber aus den Ergebnissen der Gembris-Studie Konsequenzen ziehen.
Allerdings, räumte er ein, sei die Gesangsausbildung auch
in Köln am Solofach orientiert, das ergebe sich aus der Struktur
des Lehrkörpers. Warum denn, fragten die Chordirektoren Sören
Eckhoff (Augsburg) und Albert Limbach (Köln), dieser Lehrkörper
so sei wie er sei, warum denn Chorleiter kaum jemals Lehrbeauftragungen
bekämen? Antwortend, ging Protschka entlarvend der Gaul durch:
„Chorleute werden keine Professoren, weil sie keine Namen
haben!“ „Eben darum“, kommentierte Frank Druschel,
Chordirektor des RIAS-Kammerchores Berlin, „reicht die Qualität
der von den Musikhochschulen Ausgebildeten für unsere Anforderungen
nicht aus.“ „Ensemble- und Chorgesang gehören unverzichtbar
zur Vokalistenausbildung, das muss an den Hochschulen von fachlich
erfahrenen Lehrkräften vermittelt werden,“ ergänzte
Ulrich Paetzholdt, Opernchordirektor der Deutschen Oper Berlin.
„Die Musikhochschulen bilden in einer eigenen Währung
aus, die in der Opernpraxis, zumal in der Chorpraxis geringen Wert
hat!“
Berthold Schmid, Professor an der Hochschule „Felix Mendelssohn
Bartholdy“ für Musik und Theater in Leipzig und Präsident
des Bundesverbandes Deutscher Gesangspädagogen, versuchte zu
retten, was nicht mehr zu retten war: „Wir können nicht
speziell für die Chöre ausbilden, schon gar nicht differenziert
für Rundfunk- und Opernchöre.“ Jeder Chor suche
sich die Solostimmen, die in sein Ensemble passen; das spezifisch
„Chorische“ müsse vor Ort vermittelt werden. Es
sei zwar zutreffend, konterte Paetzholdt, dass angesichts heutiger
Anforderungen an die Chöre jeder Chorsänger ein potenzieller
Solist sein müsse und auch mit solistischen Aufgaben betraut
werden solle, doch auch das Umgekehrte gelte: Jeder Studierende
müsse auch ein potenzieller Chorsänger sein und mit der
Berufswirklichkeit der Theater- und Rundfunkmusik vertraut gemacht
werden. „Zerstört die Solo-Glocken, holt die Praktiker
in die Hochschulen und bereitet die Studierenden darauf vor, dass
ihnen Patchwork-Biografien bevorstehen.“
Auf dem Prüfstand
Als Michaela Krämer, Gesangsprofessorin an der Robert Schumann
Hochschule Düsseldorf, zu vermitteln versuchte, indem sie darauf
hinwies, dass es ungeachtet beruflicher Ziele, Träume und Möglichkeiten
der Studierenden die wichtigste Aufgabe der Hochschulen sei, den
künftigen professionellen Sängern das Singen beizubringen,
und „Singen lerne man nur durch Singen“, hakte Stefan
Meuschel, Geschäftsführer der Vereinigung deutscher Opernchöre
und Bühnentänzer, ein: Gerade, weil er Michaela Krämer
zustimme, müsse er fragen, ob nicht das ganze System der Musik-
(vielleicht sogar aller Kunst-)Hochschulen auf den Prüfstand
zu stellen sei. Gerade für das „Singen-Lernen“,
erst recht für das für den Opernchorsänger unverzichtbare
„Darstellen-Lernen“ sei die Hochschule für Musik
und Theater schon seit Jahrzehnten nicht mehr der geeignete Ausbildungsplatz.
Wenn auch leider keine „PISA-Studien“ vorlägen,
sprächen die Fakten doch für sich: 52 Prozent der Opernchorsänger
(Stand 2001) kämen aus dem nicht deutschsprachigen Ausland,
die Hochschule für Musik und Theater in München biete
in den ersten vier Semestern bei insgesamt 79,5 Wochenstunden gerade
mal zwei Wochenstunden Klavier und 13,25 Wochenstunden Gesangsunterricht
an. Und das bei einer am Betrieb der wissenschaftlichen Hochschulen
orientierten Semestergliederung, bei der die das Singen Lernenden
in den Semster-„Ferien“ zusehen müssten, wie sie
sich durch Selbststudium oder Privatunterricht (womöglich bei
ihren Hochschullehrern?) über Wasser hielten. Selbstverständlich
sei die Begleitung des Gesangsstudiums von breiten, auch wissenschaftlichen
Ausbildungsinhalten zu bejahen – ein Studium generale als
Begleitung forderte Daniela Thomas, die Sprecherin der Studentenschaft
– doch Schwerpunkt müsse das Erlernen des künstlerischen
Handwerks sein. Auch sei die Frage zu stellen, wie viel „hoheitliches
Handeln“ das Vermitteln von Singen und Darstellen berge, um
die Lebenszeit-Verbeamtung von (Kunst-)Hochschullehrern zu rechtfertigen.
Der C4-Professor, der sich als Zephir weigere, Sängern den
für ihre Selbstbegleitung notwendigen Klavierunterricht zu
erteilen, habe seit Jahren schon Kabarettreife erlangt und existiere
dennoch an den Musikhochschulen fort. Auch gebe es für die
aus guten Gründen geforderte praxisorientierte Ausbildung von
Sängern seit langem bewährte Vorbilder: Stuttgart und
Dresden seien zu nennen.
Fazit
Der Musikjournalist Walter Vorwerk aus Berlin, der das Chorforum
zu moderieren übernommen hatte, fasste mit Dank an die ZBF
die Ergebnisse der Diskussionen wie folgt zusammen: Aktualisierte
Berufsbilder der Rundfunk- und Opernchorsänger sind zu erarbeiten.
Chordirektoren-Konferenzen – unter Einbeziehung der Theaterleitungen
und der zuständigen Berufsverbände DOV (Rundfunkchöre)
und VdO (Opernchöre) – müssen diese Aufgabe übernehmen.
Gemeinsames Anliegen muss es sein, die Position der Chordirektoren
zu stärken. In welcher Form auch immer: Die Chorpraxis muss
in die Ausbildung einbezogen werden. Chordirektoren und –sänger
müssen sich den Ausbildungseinrichtungen zur Verfügung
stellen. Analog zu den Orchesterakademien bedarf es – bis
zu einer Reform der Vokalistenausbildung und bis zur Behebung der
Ausbildungsdefizite – der Einrichtung von Opernchorakademien.
Die von Heiner Gembris aufgezeigten Ausbildungsmängel müssen
behoben werden: Die Ausbildungseinrichtungen müssen die Studierenden
auf die Praxis des Berufslebens vorbereiten (zum Beispiel: Wie singe
ich vor? Wie bewerbe ich mich? Welche arbeitsrechtlichen Bedingungen
erwarten mich?).
Und wäre es nicht Abend geworden, dauerte die Debatte der
ZBF-Vermittler, Hochschullehrer, Chordirektoren, Berufsverbandsvertreter,
Studierenden noch immer an. Sie betrifft zwar nur einen Mini-Bereich,
ist aber deutschlandtypisch: Erst kurz vor dem Abgrund beginnt sie.
Nikolaus Kuhn
Aus der Situationsanalyse der ZBF:
Unserer Erfahrung/Beobachtung nach kann der Bedarf der Berufschöre
an gut ausgebildeten deutschsprachigen tiefen Frauenstimmen und
hohen und tiefen Männerstimmen nicht gedeckt werden. Zum
Teil liegt das in der Anzahl der Bewerber, zum Teil aber auch
in der mangelnden Eignung der sich bewerbenden Sänger und
Sängerinnen für den Chorgesang begründet.
Trotz des Bedarfes ist die Ausbildung der Gesangsstudenten auf
eine Solokarriere ausgerichtet. Obwohl ein Engagement im Chor
eine größere soziale Sicherheit und ein höheres
Einstiegsgehalt bietet, wird diese Möglichkeit von vielen
als weniger attraktiv angesehen. Das arbeitsmarktliche Ungleichgewicht
bezogen auf die Stimmfächer hat zur Folge, dass sich das
Anspruchsniveau für lyrische Soprane im Chorbereich schnell
hoch geschraubt hat, während durch Fehlen des männlichen
Nachwuchses hier auf viel geringerem Niveau vermittelt wird.
Studienangebote, die das professionelle Ensemblesingen schulen,
gibt es nicht. Karriereberatung, Hinweise auf außermusikalische
und persönlichkeitsspezifische Aspekte für einen erfolgreichen
Berufseinstieg fehlen. Vergleichbar ist die Situation in der Dirigentenausbildung.
Ambitionierte Musiker streben eine Orchesterdirigentenkarriere
an und setzen sich kaum mit anspruchsvoller Chorliteratur auseinander.
Das Studium zum Chordirigenten orientiert sich hingegen an der
Arbeit mit Laien und deckt nicht die Ansprüche der Berufchöre
ab.
Dahinter steckt die allgemeine gesellschaftliche Geringschätzung
der Chorarbeit im Vergleich zur Sololaufbahn. Hier gilt es, den
Chorbereich durch intensive Beschäftigung und Publikation
seiner Herausforderungen und Bestandteile nach innen und außen
aufzuwerten.
Das Forum, das die ZBF bietet, soll den Chordirektoren der professionellen
Chöre Deutschlands (Oper/Rundfunk) und den Hochschulrektoren
und Gesangspädagogen eine Möglichkeit des Austausches
bezüglich der Thematik des professionell und praxisbezogen
auszubildenden Nachwuchses für Chöre geben.
Praxisnähe der Ausbildung – was wird aus den Absolventen,
was benötigen sie, was muss von ihnen gefordert werden, um
mit der starken ausländischen Konkurrenz Schritt zu halten
– das sind Fragen, die sich immer wieder und verstärkt
stellen und dringend einer Standortbestimmung und Klärung
bedürfen.
Mit anderen Worten, das Verhältnis zwischen den Anforderungen
des Berufes und den im Studium vermittelten Qualifikationen muss
analysiert und Vorschläge zur Verbesserung der Ausbildung
daraus abgeleitet werden.
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